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2023-04-22 11:04:11, Jamal

Alois Berger verschränkt die Geschichte des oberbayrischen Displaced-Persons-Camps Wolfratshausen-Föhrenwald mit seiner eigenen Biografie. Er wuchs in Wolfratshausen auf. In seiner Kindheit und Jugend entging ihm die mehrheitsgesellschaftliche Überformung einer historischen Präzedenz im Holocaustkontext. In der Konsequenz administrativer, von der katholischen Kirche dynamisierter Strategien wurden städtische Schicksalsspuren von Shoa-Überlebenden dem Vergessen anheimgestellt. Einvernehmlich breiteten die Bürger:innen den Mantel des Schweigens über ein Kapitel ihrer Stadt- und Schuldgeschichte. Im Verdrängungsgalopp gingen sie zur Tagesordnung über.

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Jüdischer Freistaat im Freistaat Bayern

„1945 lebten in den DP-Camps der Westalliierten in Deutschland, Italien und Österreich rund 50.000 jüdische DPs; Anfang 1947 waren es in den deutschen Westzonen bereits 200.000.“ „Yad Vashem - Jüdische Displaced Persons: Trauma und Überlebenswillen“, Quelle

Alois Berger, „Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte“, Piper, 236 Seiten, 24,-

Das als letztes Schtetl Europas in die Geschichte eingegangene Displaced-Persons-Camp Föhrenwald (in Wolfratshausen) war die Schrumpfversion eines jüdischen Freistaats im Freistaat Bayern. David Ben Gurion hatte 1945 vom amerikanischen Militärgouverneur Dwight D. Eisenhower für die Sh'erit ha-Pletah, die Shoa-Überlebenden, einen Landstrich als eigenstaatlichen Raum gefordert. Die Enklave sollte als Reparationsleistung verstanden werden. Eisenhower zeigte sich aufgeschlossen, verfolgte Gurions Idee aber nicht weiter. Stattdessen lief das Weitere auf die armseligste Exklusivstellung hinaus, die denkbar war. In Föhrenwald, einer nationalsozialistischen Mustersiedlung, die im Dritten Reich als Zwangsarbeiter:innenlager genutzt worden war, wurden Personen zusammengefasst, für die die Migrationsmühlen besonders langsam mahlten. Das Lager existierte noch, als nach offizieller Lesart, bereits sämtliche DP-Camps aufgelöst waren. 1951 unterstellte die UN-Flüchtlingshilfe Föhrenwald den bayrischen Behörden. Auf deren Agenda stand eine zeitnahe Schließung des Lagers an erster Stelle. Doch widersetzte sich die normative Kraft des Faktischen dem Behördenehrgeiz bis 1957.

Chassidisches Charisma versus zionistische Zukunft

Zwölf Jahre zuvor war mit dem Einzug des chassidischen Rabbi Jekusiel Jehuda Halberstam an der Spitze seines Gefolges religiöses Charisma zu einem bestimmenden Faktor geworden. Die kanadische Sozialarbeiterin und UNRRA-Direktorin (UNRRA wie United Nations Relief and Rehabilitation Administration) Jean Henshaw unterstützte Rabbi Halberstam vorbehaltslos. Der Macher im Namen des Herrn gründete aus dem Stand Thora-Schulen und eine Rabbiner-Universität. Wo immer jüdisches Leben in Süddeutschland war, dahin strahlte Halberstams Sendungseifer aus. Henshaw folgte Henry Cohen, der den chassidischen Charismatiker kritischer sah.

Frage: Worin bestand Rabbi Halberstams Dilemma?

Antwort: Seine Rolle als höchste Lagerautorität kollidierte mit seiner Rolle als Oberhaupt einer Minderheit; so dass sich die Mehrheit mitunter zurückgesetzt fühlte.

Bald schon war Rabbi Halberstam nicht mehr unumstritten. Als Rivale trat der Zionist Gedalyahu Lachman an. Dem polyglotten Juristen schwebte ein sozialistisches Israel vor. Gemeinsam mit seiner Frau Mala Lachman, geborene Weiss, engagierte er sich für versprengte jüdische Waisen. Die Lachmans schmuggelten Kinder aus Osteuropa in den Westen. In Föhrenwald übernahmen sie ab November 1945 die Regie. Für viele Traumatisierte war der Zionismus das Einzige, was ihnen geblieben war. Sie konnten nicht mehr an Gott glauben. Im Zionismus ging ihr Jüdischsein auf. Sie votierten für Gedalyahu Lachman und entmachteten die Garant:innen des chassidischen Hotspots.

An die Stelle der Orthodoxie trat der Sport: vorderhand als Ventil, doch dringlicher als verdeckte Rekrutierungsmasche, paramilitärisches Sprungbrett und Coverversion des Milizwesens. Emissäre der Haganah schworen die Sportler:innen in voralpiner Idylle ein. Im oberbayrischen Wald bei Königsdorf veranstalteten sie Fackelumzüge im „Hochlandlager der (weggetretenen) Hitlerjugend“. Als Eidrequisiten dienten eine hebräische Bibel und eine Pistole.  

Vorgeblich war das Hochlandlager die landwirtschaftliche Außenstelle von Föhrenbach. Drei Kibbuze erklärten eine ständige Präsenz von dreihundert, offiziell mit bäurischen Angelegenheiten befassten Akteur:innen. In Wahrheit wurden militärische Vorbereitungen getroffen. Alle Zionist:innen wussten, dass die israelische Staatsgründung ohne Kampf nicht zu haben war. Die Shoa-Überlebenden erachtete man als Bürger:innen des künftigen Staates Israel. Ihre Wehrbereitschaft lag außerhalb des persönlichen Ermessens.

Zu den Anführer:innen zählte Shimon Avidan aka Siegbert Koch, der schon im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte. Er gründete eine geheime Offiziersschule „auf dem Gelände des Hochlandlagers“.

„Im Hochlandlager wurden die (Trainer:innen) trainiert.“

Lachman und Avidan lagen politisch auf einer Linie. Im Verhältnis zu Halberstam wirkten sie antipodisch. Und doch. Der Rabbi nötigte Lachman Bewunderung ab. Halberstam war ein Gründervater von echtem Schrot und Korn. Er gründete im New Yorker Stadtteil Williamsburg, in New Jersey und in Netanya Thora-Schulen, Rabbiner-Seminare und (in Israel) ein bis heute nicht kommerziell arbeitendes Krankenhaus (Laniado Hospital) und eine Siedlung - Kiryat Sanz. Außerdem stellte er in zweiter Ehe „die von den Nazis zerstörte Sanz-Klausenburger Rabbiner-Dynastie wieder her“.

Noch eine Bemerkung zum klandestinen Haganah-Betrieb in Föhrenwald. Die Streitkräfte eines noch nicht existierenden Staates formierten sich auch in Bayern. David Ben Gurion kam vorbei, um mit Lachman zu konferieren. Ihm folgte der Haganah-Stabschef Jisrael Galili.

„Die Haganah (Selbsthilfe) ist die älteste und zahlenmäßig stärkste dieser drei (Selbstverteidigungs)-Bewegungen. Ihr Geburtsjahr fällt in die Zeit, als Palästina noch ein Teil des türkischen Reiches war. Während des Araberaufstandes von 1936 - 39 arbeitete die Haganah mit den britischen Behörden zusammen.“ Aus einem SPIEGEL des Jahrgangs 1948, Quelle

Aus der Ankündigung

Föhrenwald, das vergessene Schtetl - Die letzte jüdische Siedlung in Europa

Von 1945 bis 1957 lebten im bayerischen Wolfratshausen im Ortsteil Föhrenwald zeitweise mehr als 5000 Juden, Überlebende des Holocaust – mit Synagogen, Religionsschulen und einer eigenen Universität für Rabbiner. Föhrenwald hatte eine jüdische Selbstverwaltung, eine jiddische Zeitung und eine jüdische Polizei. 1957 wurde Föhrenwald aufgelöst, die Bewohner auf deutsche Großstädte verteilt. Föhrenwald wurde umbenannt und aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Der Ort steht exemplarisch für einen weitgehend unbekannten Teil der deutschen Geschichte. Der Autor ist dort aufgewachsen, er hat das Schweigen erlebt. Er verwebt die Spurensuche in seiner Heimat mit den Geschichten der Überlebenden – denen, die nach Israel gingen, und denen, die aus dem Land der Täter nicht wegkonnten.

„Ich habe meine gesamte Jugend in einer Art Theaterkulisse verbracht, einer sehr schönen, fast kitschigen Theaterkulisse mit verschneiten Bergen am Horizont, glasklaren Seen, mit malerischen Bauerndörfern und barocken Kirchen. Natürlich war das alles real, aber die Bilder im Kopf bekamen zerschlissene Ränder und fadenscheinige Stellen, als ich herausfand, dass mitten in dieser friedlichen Landschaft ein blinder Fleck war, eine sehr große undurchsichtige Leerstelle, über die nie geredet worden war.“ Alois Berger

Zum Autor

Alois Berger, Jahrgang 1957, studierte Philosophie und Politik. Er war viele Jahre EU-Korrespondent der taz in Brüssel sowie Radio- und Fernsehreporter für DLF, WDR und Dokumentarfilmer für ARTE. Er lebt als freier Journalist in Berlin.