Die Bielski-Partisan:innen - Mit dem Mut der Verzweiflung
Die Dzieciolskis ignorierten Asael Bielskis Werbung, zumal die umworbene Chaya D. kein Interesse für den simplen Bauernmüller aufbrachte. Doch dann fielen die Deutschen ein.
„Die Gefahr änderte die Spielregeln.“
Asael besaß die Tugenden eines Überlebenskünstlers. Plötzlich besaßen seine wilden Spielräume einen refugialen Charakter.
„Als Brautgeschenk gab mein Vater meiner Mutter einen Revolver.“ Er nötigte ihr den Schwur ab, sich niemals zu ergeben.
„Du darfst den Deutschen nicht lebend in die Hände fallen.“
Alois Berger verschränkt die Geschichte des oberbayrischen Displaced-Persons-Camps Wolfratshausen-Föhrenwald mit seiner eigenen Biografie. Er wuchs in Wolfratshausen auf. In seiner Kindheit und Jugend entging ihm die mehrheitsgesellschaftliche Überformung einer historischen Präzedenz im Holocaustkontext. In der Konsequenz administrativer, von der katholischen Kirche dynamisierter Strategien wurden städtische Schicksalsspuren von Shoa-Überlebenden dem Vergessen anheimgestellt. Einvernehmlich breiteten die Bürger:innen den Mantel des Schweigens über ein Kapitel ihrer Stadt- und Schuldgeschichte. Im Verdrängungsgalopp gingen sie zur Tagesordnung über.
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Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier.
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“Don’t rush to fight and die. So few of us are left, we need to save lives. It is more important to save Jews than to kill Germans.” “Yad Vashem Solidarity in the Forest - The Bielski Brothers”, Tuvia Bielski, Quelle
Wilde Spielräume
In Föhrenwald nutzte die Haganah eines ihrer ureigensten Kampfmittel. Deutschstämmige Kombattant:innen konnten mit den Verhältnissen vor Ort verschmelzen. Denken Sie an die orientalische Variante - die Mista'aravim. Das war zunächst eine Weiterentwicklung jüdischer Selbstverteidigungsformate im Geist von HaSchomer, der im frühen 20. Jahrhundert im osmanisch beherrschten Palästina als „Wächter“ agierte und als Vorgänger der Haganah historisch wurde. Bis auf den heutigen Tag werden solche Mizrachim im Mista'aravim-Kontext als Kundschafter:innen eingesetzt, die auch unter Araber:innen als Araber:innen durchgehen.
In Nawahrudak (damals gehörte die Stadt zur polnischen Woiwodschaft Nowogródek, heute ist sie belarussisch) entstand 1941 im Zuge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion ein Ghetto.
Alois Berger, „Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte“, Piper, 236 Seiten, 24,-
Nur 350 von 10.000 ihrer Freiheit Beraubten überlebten die Konzentration. Siehe Navahrudak Ghetto. Die jüdische Müller- und Bauernfamilie Bielski geriet in die faschistischen Fänge. Bei einer Massenerschießung wurden die Eltern ermordet. Den Geschwistern Tuvia, Zusia, Asael und Aharon Bielski glückte die Flucht. Die Überlebenden scharten Geächtete um sich, die als Bielski-Partisanen in die Geschichte eingingen. Mehr als 1200 Kombattant:innen und Beschützte* existierten schließlich in dem Verband, dessen unangefochtener Anführer der militärisch geschulte Zionist Tuvia B. (1906 - 1987) war. Das Hauptquartier, ein Blockhüttendorf in der Nalibozkaja Puschtscha, wurde als „Jerusalem in den Wäldern“ besungen. Die Gemeinschaft betrieb eine Schule, eine Bäckerei, eine Krankenstation und eine Wäscherei. Siehe “Yad Vashem Solidarity in the Forest - The Bielski Brothers”, Quelle
Die Gegend verdankte ihre Unberührtheit einem mageren Boden. Landwirtschaftliche Nutzungsversuche verliefen buchstäblich im Sand.
“There was something familiar about the forest, and in the worst case we could escape among the trees.” “Yad Vashem Solidarity in the Forest - The Bielski Brothers”, Tuvia Bielski, Quelle
*Ein selbstgestellter Auftrag der Bielski-Partisan:innen verpflichtete die Bielskis zur Rettung von Jüdinnen und Juden. Sie bekämpften antisemitische Partisan:innen und kooperierten mit sowjetischer Guerilla. Nach der Vertreibung der Wehrmacht kehrten sie im Sommer 1944 - in einer Mannschaftsstärke von 1230 Geretteten - „in die Zivilisation zurück“. Da nun Nowogródek in der Sowjetunion lag, drohte den Wehrfähigen ein Einsatz in der Roten Armee.
„Die meisten (Bielski-Partisan:innen) machten sich deshalb sofort nach Westen auf.“
„Wir sind eine große Familie, die im Krieg immer größer geworden ist.“ Assaela Weinstein, Tochter des kurz vor Kriegsende gefallenen Asael Bielski.
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„Mein Vater, meine Mutter und ihre Verwandtschaft, das war der Beginn der (Bielski-Partisan:innen).“
Assaela Weinstein erzählte dem Autor ihre Geschichte. Ihr Vater stammte von einfachen Leuten ab. Die Mutter kam aus einer bildungsbeflissenen Unternehmerdynastie. Eine Großmutter hatte die höhere Schule besucht und einen bedeutenden Rabbiner geheiratet. Die Dzieciolskis ignorierten Asael Bielskis Werbung, zumal die umworbene Chaya D. kein Interesse für den simplen Bauernmüller aufbrachte. Doch dann fielen die Deutschen ein.
„Die Gefahr änderte die Spielregeln.“
Asael besaß die Tugenden eines Überlebenskünstlers. Plötzlich besaßen seine wilden Spielräume einen refugialen Charakter.
„Als Brautgeschenk gab mein Vater meiner Mutter einen Revolver.“ Er nötigte ihr den Schwur ab, sich niemals zu ergeben.
„Du darfst den Deutschen nicht lebend in die Hände fallen.“
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Nach der Befreiung wurde Föhrenwald zum „europäischen Sammelpunkt der Kampfgruppe“. Ein Foto aus dem Jahr 1946 zeigt rund siebzig Personen aus dem Bielski-Kreis. Der Autor bemerkt, wie ungebrochen das Ensemble sich präsentierte. Der Kampfgeist beflügelte alle.
Die am Leben gebliebenen Bielski-Brüder waren damals schon in Palästina, um weiterzukämpfen.
Aus der Ankündigung
Föhrenwald, das vergessene Schtetl - Die letzte jüdische Siedlung in Europa
Von 1945 bis 1957 lebten im bayerischen Wolfratshausen im Ortsteil Föhrenwald zeitweise mehr als 5000 Juden, Überlebende des Holocaust – mit Synagogen, Religionsschulen und einer eigenen Universität für Rabbiner. Föhrenwald hatte eine jüdische Selbstverwaltung, eine jiddische Zeitung und eine jüdische Polizei. 1957 wurde Föhrenwald aufgelöst, die Bewohner auf deutsche Großstädte verteilt. Föhrenwald wurde umbenannt und aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Der Ort steht exemplarisch für einen weitgehend unbekannten Teil der deutschen Geschichte. Der Autor ist dort aufgewachsen, er hat das Schweigen erlebt. Er verwebt die Spurensuche in seiner Heimat mit den Geschichten der Überlebenden – denen, die nach Israel gingen, und denen, die aus dem Land der Täter nicht wegkonnten.
„Ich habe meine gesamte Jugend in einer Art Theaterkulisse verbracht, einer sehr schönen, fast kitschigen Theaterkulisse mit verschneiten Bergen am Horizont, glasklaren Seen, mit malerischen Bauerndörfern und barocken Kirchen. Natürlich war das alles real, aber die Bilder im Kopf bekamen zerschlissene Ränder und fadenscheinige Stellen, als ich herausfand, dass mitten in dieser friedlichen Landschaft ein blinder Fleck war, eine sehr große undurchsichtige Leerstelle, über die nie geredet worden war.“ Alois Berger
Zum Autor
Alois Berger, Jahrgang 1957, studierte Philosophie und Politik. Er war viele Jahre EU-Korrespondent der taz in Brüssel sowie Radio- und Fernsehreporter für DLF, WDR und Dokumentarfilmer für ARTE. Er lebt als freier Journalist in Berlin.