Sowjetische Kindheit
„Zwischen Ausnahmezustand und Alltag vergeht die Zeit und scheint doch stillzustehen.“ Daniel Schulz über den ukrainischen Kriegsalltag im Mai 2022
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„Auf dem Weg nach Nikolajewka fuhren wir an vielen Ruinen, zerstörten Häusern, beschossenen Wänden und Zäunen vorbei. Wir hielten an der Kreuzung in Semjonowka an. Alles um uns herum zerstört. Niemand hatte etwas aufgeräumt. Glassplitter und Müll auf der Straße und in den Ruinen. Dazwischen ein Kinderstiefel.“ Georg Genoux, Quelle
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“And yet as Russian President Vladimir Putin declared a ‘special military operation’ in the early hours of Feb. 24, none of them could quite believe what was happening. ‘We thought they would try to take more territory in eastern Ukraine,’ says Rudenko. ‘Not that it would be a full-fledged war.’“ Olga Rudenko in Time, Quelle
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„Alles hier besitzt eine filmische Qualität von Unwirklichkeit. Die Leute erzählen Witze.“
Sergej Gerassimow am Morgen des 24. Februars 2022. Der Krieg hat gerade begonnen. Der Autor beobachtet „das rote Glühen von Explosionen, die noch jenseits des Horizonts liegen“.
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„In diesem Moment wurde mir klar, dass kein Feind jemals die Chance haben würde, die Ukraine zu besiegen.“ Sergej Gerassimow
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„Die Menschen bluten aus der dahingeschlachteten Stadt.“ Sergej Gerassimow
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„Und überall Felder, Sonne, Leichen.“
Eine ukrainische Impression aus dem Jahr 1920 von Isaak Babel, „Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeugnisse“, Hanser
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„Die Menschen in Deutschland und im gesamten Westen haben die Demokratie geerbt. Sie sind nur noch Konsumenten demokratischer Werte.“ Oleksandra Matwijtschuk, Quelle
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„Wenn Russland uns okkupieren möchte, muss es uns erst umbringen.“ Olha Zhurba, Quelle
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„Das alte Sprichwort, das Generäle einen neuen Krieg so planen, wie sie den vorherigen geführt haben, hat sich dieses Jahr bewahrheitet. Die russischen Angreifer in der Ukraine erwarteten, das Land vorzufinden, das sie 2014 angegriffen hatten, aber sie trafen auf ein ganz anderes.“ Serhii Plokhy, „Das Tor Europas“
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„Wenn etwas den Unterschied in diesem Krieg ausmacht, dann ist es keine Waffe. Es sind die Ukrainer. Ihr Widerstandsgeist.“ Reinhard Müller in der FAZ vom 18.09. 2022, Quelle
Gerassimow versus Gerassimow
Entgangen zu sein scheint Sergej Gerassimow, dass er auch von einem Namensvetter angegriffen wurde. Auf der anderen Seite des Geschehens agierte Witali Petrowitsch Gerassimow im Rang eines Generalmajors als stellvertretender Kommandeur der 41. Armee.
Legerer Einmarsch
Am 24. Februar 2022 dynamisiert sich der Aufmarsch zu Belgorod. Russische Truppen überqueren die ukrainische Staatsgrenze. Sie steuern Charkiw an. Nach dem Verlust von vier Panzern unterbrechen sie ihren Vorstoß. Die Verschnaufpause währt drei Tage. Wie müde Wanderer schlurfen die Soldaten schließlich in die Stadt. Sie wirken „weder wachsam noch kampfbereit“.
„Russische Einheiten haben ihre Bereitstellungsräume verlassen und sich offenbar in Angriffsstellung begeben … Zudem sorgt eine mysteriöse Markierung auf Panzern für Aufsehen.“ Jonas Roth am 21.02.2022 in der NZZ, Quelle
Sergej Gerassimow, „Feuerpanorama. Ein ukrainisches Kriegstagebuch“, auf Deutsch von Andreas Breitenstein, dtv, 249 Seiten, 22,-
Der legere Einmarsch legt die Vermutung nach, dass die Usurpatoren von den Bürger:innen das freundlichste Entgegenkommen erwarten.
Gerassimow erklärt: „Damit lagen sie völlig falsch … Die Russen fühlten sich zurückgewiesen, beleidigt und verachtet.“
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Zuerst fällt die Heizung aus. „Es gibt kein Wasser in den Leitungen.“ Gerassimow will sich im Internet ein Bild von seiner Lage machen. Doch nur der „alltägliche Informationsmüll“ türmt sich auf. Zum ersten Mal sondiert der Autor die Geräusche des Krieges. Noch findet die akustische Differenzierung auf dem Niveau der Comicsprechblasenpoesie statt.
Der individuelle Notstand wächst sich umgehend zum neuen gesellschaftlichen Phänomen aus. Die Leute stehen wegen Wasser an. Sie bevorraten sich provisorisch. Mit Galgenhumor stellen sie ihre Kernfestigkeit unter Beweis.
„Im schlimmsten Fall … müssen wir Wasser aus den Pfützen trinken.“
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Von nun an ist jeder Einkauf mit Schlangestehen verbunden. Der Mangel übernimmt die Regie. Gerassimow schildert bizarre Supermarktszenen und ihm bis eben unbekannte häusliche Kalamitäten. Die vier Familienkatzen verweigern kriegsförmige Anpassungen. Ihnen fehlt jeder Begriff vom Ernst der Lage. Der menschliche Büchsenöffner bewahrt seinen Sinn für Komik.
Der Feind sprengt den Petschenihy-Stausee. Raketen schlagen im Zoo ein. Wölfe entkommen dem Inferno und treiben sich in der Stadt herum.
Der Brotpreis vervierfacht sich. Das spielt aber keine Rolle, da es kein Brot gibt.
Gerassimow mischt Lakonie mit hymnischen Ein- und Auslassungen. Er lobt die Kreativität seiner Landsleute im Kampf gegen die Usurpatoren. Ausgebrannte Panzer sehen aus „wie tote Käfer“.
Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Am 24. Februar 2022 startet die russische Armee einen großangelegten Überfall auf die Ukraine. Während Hunderttausende Menschen fliehen, bleibt der Schriftsteller Sergej Gerassimow in seiner Heimatstadt Charkiw und beginnt über die Absurdität eines Alltags im Krieg zu schreiben. Ein aufwühlendes Zeitzeugnis, ein Appell zum Frieden und zur Verständigung.
Zum Autor
Sergej Wladimirowitsch Gerassimow wurde 1964 in Charkiw in der Ukraine geboren. In den frühen Neunzigerjahren studierte er in seiner Heimatstadt Psychologie. Er ist Verfasser mehrerer Lehrbücher und Romane, außerdem übersetzt er Gedichte. Gerassimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Dort schreibt er seine Eindrücke über den Krieg nieder.
Zum Übersetzer
Andreas Breitenstein wurde 1961 in Zürich geboren. Er ist Journalist, Literaturkritiker und Übersetzer. Seit 1992 ist Breitenstein Mitglied der Feuilletonredaktion der ‹Neuen Zürcher Zeitung›, wo er unter anderem die Kulturen Osteuropas und Russlands betreut.