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2023-04-26 07:14:26, Jamal

In Mariupol bombardieren Russen eine Geburtsklinik und ein Kinderkrankenhaus. Nun können sie nicht mehr so leicht aufgeben wie zuvor. Das wird es nicht mehr geben: Rekruten, „die sich in Wäldern und Sümpfen absichtlich verirren, um sich von … Bäuerinnen (mütterlich) einfangen zu lassen“.

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„Russische Einheiten haben ihre Bereitstellungsräume verlassen und sich offenbar in Angriffsstellung begeben … Zudem sorgt eine mysteriöse Markierung auf Panzern für Aufsehen.“ Jonas Roth am 21.02.2022 in der NZZ, Quelle

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„Die Ukraine verteidigt sich. Lassen Sie uns die Dinge beim Namen nennen: Dass Charkiw, Mykolajiw und Odessa noch immer in ukrainischer Hand sind und es dort keine Filtrationslager und Massengräber gibt, ist nicht der russländischen Gesprächsbereitschaft zu verdanken, sondern unserer Kampfbereitschaft und Widerstandsfähigkeit.“ Serhij Zhadan in der ZEIT am 06.07. 2022, Quelle

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„Manchmal scheint der Krieg von einer Straßenseite zur anderen gesprungen zu sein wie ein übermütiges Tier.“ Daniel Schulz über den Alltag in einem angegriffenen Land. Die Beobachtung machte der Autor im Mai 2022 in Schytomyr.

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„Deutschland hat verstanden, dass die Ukraine die europäischen Werte mit ukrainischen Leben verteidigt und dass es an der Zeit ist, dass sie dies auch mit europäischen Waffen tut.“ Wladimir Klitschko in seiner Antwort auf den Brief der 28. Aus der FAZ vom 03.05. 2022, Quelle

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„Die Krim mit ihren Hammelfleischklößen und Minaretten ist schon an sich ein verführerisches Objekt für kinematografische Überfälle.“ Ossip Mandelstam, „Gespräch über Dante, Gesammelte Essays II 1925-1935“, Ammann Verlag 1991

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„Wenn Russland uns okkupieren möchte, muss es uns erst umbringen.“ Olha Zhurba, Quelle

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„Der Putinismus hat den systemischen Sadismus des Stalinismus übernommen.“ Igor Jakowenko 

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„Ein Tennis-Oldie wird zum Ukraine-Helden/Leonid Stanislawski ist 98 Jahre alt und noch immer ein leidenschaftlicher Tennisspieler. Nach seiner Flucht aus Charkiw steht der Ukrainer wieder auf dem Platz.“ Aus der „Hamburger Morgenpost“ vom 8.05.2022, Quelle 

 

Bombardiertes Bildungsballungszentrum

Am 24. Februar 2022 dynamisiert sich der Aufmarsch zu Belgorod. Russische Truppen überqueren die ukrainische Staatsgrenze. Sie steuern Charkiw an. Nach dem Verlust von vier Panzern unterbrechen sie ihren Vorstoß. Die Verschnaufpause währt drei Tage. Wie müde Wanderer schlurfen die Soldaten schließlich in die Stadt. Sie wirken „weder wachsam noch kampfbereit“.   

Sergej Gerassimow, „Feuerpanorama. Ein ukrainisches Kriegstagebuch“, auf Deutsch von Andreas Breitenstein, dtv, 249 Seiten, 22,-

Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine und ein Bildungsballungszentrum des Landes. Der Beschuss trifft eine russisch geprägte Bevölkerung. Die Russen attackieren Bürger:innen, „die größtenteils Russisch sprechen, auf Russisch denken und auf Russisch träumen“.

Schnell ändern sich die Routinen. Die Belagerten avancieren zügig zu Kenner:innen der Kriegsmaterie. Eben noch waren sie vollkommen zivil. Jetzt weiß Sergej Gerassimow, wo der Hase im Pfeffer liegt, wenn ein Mann erzählt, dass sein Haus von einer Rakete getroffen wurde, die zum Glück nicht explodiert sei; aber trotzdem „drei Stockwerke durchschlagen habe“.

Das Ding war ein Smertsch-Raketenträger: ein Vehikel für Streubomben. Putin braucht keine Eskalation, um in die Vollen der völkerrechtswidrigen Kriegsführung gehen. Er setzt Soldaten ein, die in Syrien gelernt haben, wie ungefährlich es ist, Terror zu verbreiten, wenn man für eine Weltmacht im Einsatz ist.

„Interviews mit zwei Zeugen und eine Analyse von 40 Videos und Fotos zeigen, dass die Submunition von Streumunitionsraketen des Typs 9M55K Smerch aus russischer Produktion stammt … ‚Charkiw wird von den russischen Streitkräften unerbittlich angegriffen, und die Zivilbevölkerung versteckt sich in Kellern, um den Explosionen und Trümmern zu entgehen‘, sagte Steve Goose, Direktor der Abteilung für Waffen bei Human Rights Watch.“ Aus „Ukraine: Streumunition auf Wohngebiete in Kharkiv abgefeuert“, Human Rights Watch, Quelle

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Oleh Synjehubow, Gouverneur der Oblast Charkiw, erklärt öffentlich, dass die Agglomeration komplett unter ukrainischer Kontrolle steht. 

Gerassimow beobachtet einen Exodus. Am 8. März „haben bereits 600.000 Menschen Charkiw verlassen“.

In Mariupol bombardieren Russen eine Geburtsklinik und ein Kinderkrankenhaus. Nun können sie nicht mehr so leicht aufgeben wie zuvor. Das wird es nicht mehr geben: Rekruten, „die sich in Wäldern und Sümpfen absichtlich verirren, um sich von … Bäuerinnen (mütterlich) einfangen zu lassen“.

Gerassimow nähert sich dem Grauen auf dem Umweg des Anekdotischen. Die Bürger:innen sind weitgehend auf sich gestellt. Im eiskalten Winter müssen sie mit Versorgungsengpässen an allen Alltagsfronten fertigwerden. Sie drohen in ihren ausgekühlten, nicht selten von Sprengkörpern beschädigten Wohnungen zu erfrieren.

Doch noch immer gibt es Menschen, die Tauben füttern.

Gerassimow gewährt seinen Leser:innen Horrorpausen. Dann erzählt er zum Beispiel von Leonid Stanislawskyj, dem sehr wahrscheinlich ältesten Tuniertennisspieler der Welt. Stanislawskyj schläft gut, weil er schlecht hört. Den aktuellen Krieg findet er noch schrecklicher als den Zweiten Weltkrieg. 1945 war er einundzwanzig.

„Ein Tennis-Oldie wird zum Ukraine-Helden/Leonid Stanislawski ist 98 Jahre alt und noch immer ein leidenschaftlicher Tennisspieler. Nach seiner Flucht aus Charkiw steht der Ukrainer wieder auf dem Platz.“ Aus der „Hamburger Morgenpost“ vom 8.05.2022, Quelle  

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In der Zwischenzeit wurde Wolnowacha in Schutt und Asche gelegt. Lassen sich Städte nicht einfach einnehmen, gehen die Usurpatoren zur kontaktlosen Kriegsführung über. Sie schießen „aus sicherer Entfernung“ alles zusammen, bis die Trümmerfelder so unbewohnbar sind wie der Mond.

„Kaum Lebensmittel, kein Strom und kein Wasser: Die Lage in den ukrainischen Städten Mariupol und Wolnowacha ist dramatisch. Und die von Russland verkündete Feuerpause hält nicht.“ Deutsche Welle am 05.03. 2022, Quelle   

Gerassimows sowjetische Kindheit hilft ihm, den Putinismus auf deutliche Begriffe zu bringen. Es geht um eine imperialistische Agenda.

Putin erlebte den Untergang der Sowjetunion als nationales Desaster. Der Aufbruch von Neunundachtzig war für den gelernten KGB-Agenten eine Niederlage im Kalten Krieg. Die Konditionen der postkommunistischen Frühphase beschreibt Putin mit Schlüsselbegriffen aus dem revanchistischen Diktatfrieden-Vokabular militanter Kritiker:innen des Vertrags von Versailles. Sein Geschichtsrevisionismus macht Putin zum großen Gegenerzähler. Die westliche Perspektive auf die Entzauberung des Warschauer Pakts geht von einer historischen Konsequenz aus, die Putin wie ein Kaugummi in die Länge zieht. In der Verlängerung triumphieren die aus Schaden klug gewordenen Verlierer:innen über die 89er-Sieger:innen.

Für die Russ:innen war das letzte Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende vielleicht sogar schwerer als die unmittelbare Nachkriegszeit. Es wurde gestorben „wie in einem offenen Krieg“.

„Man schätzt, dass allein in Russland zwischen 1989 und 1995 1,3 bis 1,7 Millionen Menschen vorzeitig starben.“ Vor allem Menschen mittleren Alters erlagen „psychischem Stress“ in Prozessen, die das Überkommene finalisierten. Zitate aus Ivan Krastev/Stephen Holmes, „Das Licht, das erlosch“

Putin war zu keinem Zeitpunkt bereit, die westliche Lesart von Demokratie zu übernehmen. Für ihn liegt im Westen nicht die Freiheit, sondern das falsche Leben, das er mit dem Liberalismus identifiziert. Gemeinsam mit vielen Russ:innen betrauert er den Zerfall der Sowjetunion bis auf den heutigen Tag.

Das Ende der UdSSR ist für ihn „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“.

Aus der Ankündigung

Am 24. Februar 2022 startet die russische Armee einen großangelegten Überfall auf die Ukraine. Während Hunderttausende Menschen fliehen, bleibt der Schriftsteller Sergej Gerassimow in seiner Heimatstadt Charkiw und beginnt über die Absurdität eines Alltags im Krieg zu schreiben. Ein aufwühlendes Zeitzeugnis, ein Appell zum Frieden und zur Verständigung.

Zum Autor

Sergej Wladimirowitsch Gerassimow wurde 1964 in Charkiw in der Ukraine geboren. In den frühen Neunzigerjahren studierte er in seiner Heimatstadt Psychologie. Er ist Verfasser mehrerer Lehrbücher und Romane, außerdem übersetzt er Gedichte. Gerassimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Dort schreibt er seine Eindrücke über den Krieg nieder.

Zum Übersetzer

Andreas Breitenstein wurde 1961 in Zürich geboren. Er ist Journalist, Literaturkritiker und Übersetzer. Seit 1992 ist Breitenstein Mitglied der Feuilletonredaktion der ‹Neuen Zürcher Zeitung›, wo er unter anderem die Kulturen Osteuropas und Russlands betreut