Kinderstiefel
„In diesem Moment wurde mir klar, dass kein Feind jemals die Chance haben würde, die Ukraine zu besiegen.“ Sergej Gerassimow, „Feuerpanorama. Ein ukrainisches Kriegstagebuch“
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In Mariupol bombardieren Russen eine Geburtsklinik und ein Kinderkrankenhaus. Nun können sie nicht mehr so leicht aufgeben wie zuvor. Das wird es nicht mehr geben: Rekruten, „die sich in Wäldern und Sümpfen absichtlich verirren, um sich von … Bäuerinnen (mütterlich) einfangen zu lassen“. Sergej Gerassimow
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„Wenn einen das Schicksal der Ukraine kalt lässt, dann stimmt etwas nicht mit einem.“ Niall Ferguson „über die Lust am Untergang, das Versagen des Westens in der Ukraine-Politik und die Gefahr eines Atomkriegs“ in einem Interview am 15. Dezember in der Süddeutschen Zeitung
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„Zwischen Ausnahmezustand und Alltag vergeht die Zeit und scheint doch stillzustehen.“ Daniel Schulz über den ukrainischen Kriegsalltag im Mai 2022
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„Auf dem Weg nach Nikolajewka fuhren wir an vielen Ruinen, zerstörten Häusern, beschossenen Wänden und Zäunen vorbei. Wir hielten an der Kreuzung in Semjonowka an. Alles um uns herum zerstört. Niemand hatte etwas aufgeräumt. Glassplitter und Müll auf der Straße und in den Ruinen. Dazwischen ein Kinderstiefel.“ Georg Genoux, Quelle
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“And yet as Russian President Vladimir Putin declared a ‘special military operation’ in the early hours of Feb. 24, none of them could quite believe what was happening. ‘We thought they would try to take more territory in eastern Ukraine,’ says Rudenko. ‘Not that it would be a full-fledged war.’“ Olga Rudenko in Time, Quelle
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„Alles hier besitzt eine filmische Qualität von Unwirklichkeit. Die Leute erzählen Witze.“
Sergej Gerassimow am Morgen des 24. Februars 2022. Der Krieg hat gerade begonnen. Der Autor beobachtet „das rote Glühen von Explosionen, die noch jenseits des Horizonts liegen“.
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„Die Menschen bluten aus der dahingeschlachteten Stadt.“ Sergej Gerassimow
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„Und überall Felder, Sonne, Leichen.“
Eine ukrainische Impression aus dem Jahr 1920 von Isaak Babel, „Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeugnisse“, Hanser
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„Die Menschen in Deutschland und im gesamten Westen haben die Demokratie geerbt. Sie sind nur noch Konsumenten demokratischer Werte.“ Oleksandra Matwijtschuk, Quelle
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„Wenn Russland uns okkupieren möchte, muss es uns erst umbringen.“ Olha Zhurba, Quelle
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„Das alte Sprichwort, das Generäle einen neuen Krieg so planen, wie sie den vorherigen geführt haben, hat sich dieses Jahr bewahrheitet. Die russischen Angreifer in der Ukraine erwarteten, das Land vorzufinden, das sie 2014 angegriffen hatten, aber sie trafen auf ein ganz anderes.“ Serhii Plokhy, „Das Tor Europas“
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In der Zwischenzeit wurde Wolnowacha in Schutt und Asche gelegt. Lassen sich Städte nicht einfach einnehmen, gehen die Usurpatoren zur kontaktlosen Kriegsführung über. Sie schießen „aus sicherer Entfernung“ alles zusammen, bis die Trümmerfelder so unbewohnbar sind wie der Mond.
„Kaum Lebensmittel, kein Strom und kein Wasser: Die Lage in den ukrainischen Städten Mariupol und Wolnowacha ist dramatisch. Und die von Russland verkündete Feuerpause hält nicht.“ Deutsche Welle am 05.03. 2022, Quelle
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„Es steht außer Zweifel, dass … Länder, die früher zur sowjetischen Interessensphäre gehörten, niemals dahin zurückwollen.“ Galia Ackerman/Stéphane Courtois, „Schwarzbuch Putin“
Krieg abseits der Kämpfe
Ihn interessiert „der Alltag des Krieges abseits der Kämpfe“. Seinen ersten Alarm - als einer peripheren Folge von Vladimir Putins „Spezialoperation“ - erlebt der Journalist Daniel Schulz am 7. März in Tscherniwzi. Die Bevölkerung der weit vom Schuss im Westen der Ukraine gelegenen Stadt, reagiert indifferent. Schulz schlägt vor, einen Bunker aufzusuchen. Ihm wird erklärt, dass es keine Bunker gibt.
Eine Sporthalle wurde zum „Verteilungszentrum für Hilfsgüter“ umfunktioniert. Der Beobachter registriert Thermounterwäsche, Schmerztabletten und Holzlatten. Das Organisationsmuster entspricht der „ukrainischen Anarchie“. So sagt es Oleksandra Tsvetkova, die gerade aus Ukrainka, eine Stadt nahe Kyjiw, geflohen ist. Ihr „früheres Leben“ endete abrupt vor zwei Wochen.
Oleksandra Tsvetkova gehört zum Heer freiwilliger Helfer:innen - in einer Gesellschaft von international agilen Netzwerker:innen.
Daniel Schulz, „Ich höre keine Sirenen mehr. Krieg und Alltag in der Ukraine“, Reportagen, Siedler, 24,-
Erweiterte Kriegshandlungen
Mit der Idee, die Ukraine „von Lwiw im Westen bis Charkiw und Saporischschja“ im Zug zu durchqueren, bereist Schulz im Mai 2022 ein Land, dessen Bevölkerung sich seit 2014 „russländischer“ Aggression ausgesetzt sieht.
Schulz verwendet russländisch nicht nur, um das Russische von der Putin’schen Staatsgewalt zu unterscheiden. Zu Recht weist er daraufhin, dass der Kreml den Blutzoll zumal von „Marginalisierten“ und Kolonisierten entrichten lässt. Schulz übernimmt so eine Unterscheidung, die in Russland standardmäßig gilt: zwischen „Russ:innen als Ethnie“ und dem föderativ Russischen im Briefkopf einer hegemonialen Adresse.
Bereits im Mai sind „dreißig Prozent aller (ukrainischen) Arbeitsplätze“ vernichtet. „Zwischen Ausnahmezustand und Alltag vergeht die Zeit und scheint doch stillzustehen.“
Szenen eines unerklärten Krieges
Ältere Reportagen funktionieren wie Romanrückblenden. Schulz schildert Szenen eines unerklärten Krieges: Jahre bevor Westeuropa bereit war, die post-sowjetische Realität zur Kenntnis zu nehmen.
„In einem Interview … hat der chinesische Botschafter Lu Shaye die Souveränität von Staaten bezweifelt, die einst Teil Sowjetunion waren.“ Viktoria Bräuner im „Tagesspiegel“ vom 23.04. 2023, Quelle
In „Theater spielen“, einem Stück aus dem Frühjahr 2015, erzählt Schulz von Schüler:innen, die sich mit den Mitteln der Kunst eine deprimierend-komplizierte Gesellschaftstopografie zusammenbuchstabieren. Der Wunsch, die flüchtige Normalität aufzuhalten und neuerlich in einer Koppel aus zivilen Gepflogenheiten zu vergattern, offenbart sich im Dunstkreis einer zerschossenen Schule.
Schuld an der Zerstörung trägt der Feind/die Feindin. Wer Feind:in ist, hängt von der Perspektive ab. Manche reden von einem staatlichen Raketentreffer, andere von prorussischem Artilleriebeschuss.
Schauplatz des Geschehens ist Mykolajiwka, russisch Nikolajewka. Viele Bürger:innen halten am russischen Namen ihrer Stadt fest. Auch die Familiennamen kursieren in den russischen Varianten. Im Sommer 2014 erlebte die Bevölkerung eine russländisch kontrollierte, offiziell separatistische Okkupation. Ukrainische Streitkräfte beendeten die - nicht von allen als feindlich begriffene - Übernahme in Akten, deren Kriegsintensivität die Verheerungen von 2022 vorwegnahmen. In theatralischen Monologen sollen die Erfahrungen aus dem - vorläufig singulären - Kriegssommer zur Sprache gebracht werden.
Die dreizehnjährige Viktoria (Viktoriya) Gorodynska berichtet von ihrer „Liebe zu Russland … und zu einem Jungen aus der 11. Klasse, der sagt, er sei für die Russen. Es ist die Geschichte eines Armbandes, das sie ihm genäht hat. Ein Armband in Weiß-Blau-Rot, den Farben der russischen Flagge“.
Sieben Jahre später wird Viktorias Schule wieder von einer Rakete getroffen. Schulz pflegt die Information in ein historisches Dokument ein. Welten prallen in der Zeitenwende aufeinander. Davon weiß der Ursprungstext nicht. Er trägt die Signatur der umsichtig-verträglichen Berichterstattung.
Liebeskummer bewirkt einen Sinneswechsel bei Viktoria. Die Volte gerät auf einen Prüfstand. Es steht eine Menge auf dem Spiel der Glaubwürdigkeit. Drehbuchautorin Natalija Woroschbyt, englisch Natalia Vorozhbit (Schulz schreibt Natasha Vorozhbyt), und Regisseur Georg Genoux bohren nach. Sie zählen zu den „Leuten aus Kyjiw“, mit denen sich in Nikolajewka (Schulz schreibt Nikolajewka) nicht jede(r) identifiziert.
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2020 wirkt Viktoria Gorodinskaya als Co-Regisseurin bei einer Schultheaterinszenierung von Michael Endes „Momo“ mit. „(Sie) studiert Regie an der Karpenko-Karovo Universität in Kiew.“ Quelle
Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
In der Ukraine herrscht Krieg. Nicht erst seit dem Februar 2022, sondern seit 2014. Denn schon damals fielen sogenannte grüne Männchen, verdeckt operierende russische Soldaten, in den Donbass ein und begannen einen Zermürbungskrieg zur Abspaltung der Ostukraine. Ohne diesen verlustreichen Dauerkonflikt, der in Europa jahrelang kaum wahrgenommen wurde, lässt sich der Kriegsverlauf, lassen sich die Reaktionen der Bevölkerung und die für viele Beobachter überraschend gut organisierte und schlagkräftige Gegenwehr der ukrainischen Armee gegen die russischen Invasoren nicht verstehen. Der preisgekrönte Reporter Daniel Schulz verfügt über vielfältige Kontakte in das Land, über das er seit vielen Jahren schreibt und in dem er selbst als Journalist gearbeitet hat. In seinen Texten begleitet er Menschen, die bereits seit Jahren mit dem Krieg im eigenen Land leben: Zivilist:innen, Soldat:innen, Student:innen und Künstler:innen, die sich im Widerstand organisieren und für eine freie und demokratische Ukraine kämpfen. Dabei fragt Daniel Schulz, was der militärische Konflikt, der schon Jahre währt und sich wohl noch lange hinziehen wird, mit den Menschen in der Ukraine macht - denen, die kämpfen, denen, die ausharren und denen, die flüchten.
Zum Autor
Daniel Schulz, 1979 in Potsdam geboren, berichtet für das Ressort Reportage bei der taz. Er studierte in Leipzig und arbeitete für verschiedene Zeitungen in Ostdeutschland sowie das Berliner Magazin zitty, bevor er sich bei der taz vor allem den Themen Rechtsextremismus, Ostdeutschland und Ukraine widmete. Dort war er gemeinsam mit einem Team von Redakteur*innen maßgeblich u.a. an der Aufdeckung des Hannibal-Netzwerks beteiligt, einer Gruppe rechtsextremer Personen in- und außerhalb der Bundeswehr. 2018 arbeitete Daniel Schulz für die ukrainische Zeitung Kyiv Post und erhielt im selben Jahr den Reporterpreis sowie 2019 den Theodor-Wolff-Preis. 2022 erschien sein vielbeachteter Roman »Wir waren wie Brüder«.