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2023-04-28 07:35:33, Jamal

„Manchmal scheint der Krieg von einer Straßenseite zur anderen gesprungen zu sein wie ein übermütiges Tier.“ Daniel Schulz über den Alltag in einem angegriffenen Land. Die Beobachtung machte der Autor im Mai 2022 in Schytomyr.

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Bereits im Mai 2022 sind „dreißig Prozent aller (ukrainischen) Arbeitsplätze“ vernichtet. „Zwischen Ausnahmezustand und Alltag vergeht die Zeit und scheint doch stillzustehen.“ Daniel Schulz

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„Auf dem Weg nach Nikolajewka fuhren wir an vielen Ruinen, zerstörten Häusern, beschossenen Wänden und Zäunen vorbei. Wir hielten an der Kreuzung in Semjonowka an. Alles um uns herum zerstört. Niemand hatte etwas aufgeräumt. Glassplitter und Müll auf der Straße und in den Ruinen. Dazwischen ein Kinderstiefel.“ Georg Genoux, Quelle

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Wolnowacha wurde in Schutt und Asche gelegt. Lassen sich Städte nicht einfach einnehmen, gehen die Usurpatoren zur kontaktlosen Kriegsführung über. Sie schießen alles zusammen, bis die Trümmerfelder so unbewohnbar sind wie der Mond.

„Kaum Lebensmittel, kein Strom und kein Wasser: Die Lage in den ukrainischen Städten Mariupol und Wolnowacha ist dramatisch. Und die von Russland verkündete Feuerpause hält nicht.“ Deutsche Welle am 05.03. 2022, Quelle   

Kombattantin im Informationskrieg

Time handelt sie als „Next Generation Leader“. Das amerikanische Nachrichtmagazin widmete der ukrainischen Journalistin eine Coverstory. Siehe Time-Titel Olga Rudenko. Im Mai 2022 trifft Schulz den publizistischen Shooting Star in Kyjiw. Die Chefredakteurin der Kyiv Independent, einer Sezession der Kyiv Post, gilt als Garantin einer quellenbasierten, streitfest recherchierten Berichterstattung. Aktivistischem Haltungsjournalismus bietet ihr Periodikum kein Forum.

„Wir erlauben es uns selten, emotional zu werden.“

In einem schicken, vom Krieg stillgelegten Bezirk, setzen die Redaktionsräume eine Village-Marke. Schulz sieht sich da um, wo Rudenko am Morgen des 24. Februars Putins Angriffsankündigung zur Kenntnis nahm. Rudenko rechnete mit dem Schlimmsten. In ihrer Vorstellung erschöpfte sich das Schlimmste in erhöhtem militärischen Druck auf den ukrainischen Osten. 

Daniel Schulz, „Ich höre keine Sirenen mehr. Krieg und Alltag in der Ukraine“, Reportagen, Siedler, 24,-

“And yet as Russian President Vladimir Putin declared a ‘special military operation’ in the early hours of Feb. 24, none of them could quite believe what was happening. ‘We thought they would try to take more territory in eastern Ukraine,’ says Rudenko. ‘Not that it would be a full-fledged war.’“ Olga Rudenko in Time, Quelle

Rudenko deckt Missstände auch in ukrainischen Reihen auf. Die Journalistin scheut sich nicht, Volodymyr Zelenskyy zu kritisieren. Zwar hält sie ihn unter den Ausnahmebedingungen des Krieges für einen gute Präsidenten. Trotzdem begegnet sie ihm und manchen Leuten in seiner Nähe mit Vorbehalten.

„Wir wollen natürlich, dass die Ukraine gewinnt … Aber wenn wir Propaganda verbreiten … würde die Ukraine wie Russland werden. Und dann wäre ein Sieg kein Sieg.“

Beim Vergleich mit einer - im Hinblick auf Wirkung und Stellenwert vergleichbaren - russischen Referenz, ergibt sich ein lehrreicher Gegensatz. Rudenko verkörpert jenen Universalismus, den Putin für camouflierten Partikularismus hält. Nach den geostrategischen Begriffen des Diktators verblenden die Verfechter:innen des westlichen Demokratiemodells ihren Expansionsdrang mit Moralgipsgirlanden.

In ihrem Essay „Die Erschaffung des Homo post-sovieticus: Putins Ingenieure der Seele“ beleuchtet Françoise Thom die Folgen einer Entfesselung des sowjetischen Propagandaapparats nach dessen Befreiung vom kommunistischen Ballast. Die Historikerin spricht von einer „Umerziehung (der postsowjetischen Bevölkerung) zum Schlechteren“. Die Herrschaftssprache sei längst „losgelöst von jeglichem Anspruch auf Wahrheit“. Die Eliten überböten sich in menschenverachtenden Einlassungen. Der Mitbegründer der Nationalbolschewistischen Partei Russlands Alexander Geljewitsch Dugin habe zum Genozid an der „Bastardrasse“ der Ukrainer:innen aufgerufen.

Der russische Standpunkt

 „Wir machen kein Geheimnis aus der Tatsache, dass wir ein russischer Sender sind - selbstverständlich sehen wir die Welt vom russischen Standpunkt aus. Wir sind in dieser Hinsicht sehr viel ehrlicher.“ Die Starjournalistin Margarita Simonowna Simonjan, Quelle

Thom zählt Margarita Simonowna Simonjan zu den „großen (Propagandistinnen) des Putinismus“. Als Schülerin gewann Simonjan ein Amerika-Stipendium. Der Realitätscheck habe bei ihr die Fama vom Goldenen Westen zerstört. Gleichzeitig lernte Simonjan die Unabhängigkeitserklärung auswendig.

Simonjans, 2022 verstorbener Kollege Wladimir Wolfowitsch Schirinowski, von Thom als „Populismusvirtuose“ charakterisiert, erklärte die ukrainische Bevölkerungszusammensetzung so:

„Es gibt dort zwei verschiedene Völker. Auf der einen Seite die Russen und russifizierte Ukrainer, auf der anderen die Westler, die in den zu Österreich-Ungarn gehörenden Gebieten gelebt haben.“