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2023-04-29 07:45:15, Jamal

Brillante Banlieue-Biografie

„Im Herzen eines Menschen ruht der Anfang und das Ende aller Dinge.“ Leo Tolstoi

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„Migration hat sich zur dominanten Chiffre für die Frage Europas nach seiner demokratischen Verfasstheit entwickelt. Die Migrationsfrage ist … zur neuen sozialen Frage des 21. Jahrhunderts geworden.“ 

In der postmigrantischen Gesellschaft lässt sich „die alte Trennschärfe“ zwischen Eigen und Fremd (zwischen „Etablierten und Außenseitern“, Norbert Elias) nicht mehr herstellen. Das führt einerseits zu einer neuen Normalität im Zuge der Erweiterung hybrid-diverser Konstellationen und andererseits zu einem „Anstieg rassifizierender Denkmuster“. (Naika Foroutan).

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„Mein Bild vom Migranten ist eine Person, die aus dem Koffer lebt, mit einem Fuß immer vor der Tür.“ Helon Habila, „Reisen“.  

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„Auf der ganzen Welt werden dystopische Großtechnologien installiert, monströse Anlagen“ (Fabian Georgi), die Migrant:innen aufhalten. Die ökonomische Verwertung von Migrationsprozessen beeinflusst die Politik. Auf den Märkten der Migration werden Menschen nach den Spielregeln eines „autoritären Festungskapitalismus“ (Fabian Georgi) entrechtet, verschoben und in Albträumen aus Stacheldraht und Beton interniert. Die Infrastrukturen der Ölstaaten im Mittleren Osten, einschließlich der Prunk- und Rekordbauten, entstanden unter den Bedingungen der Sklaverei im Rahmen „globaler Apartheit“ (Fabian Georgi).

Mit progressiver Rhetorik camoufliert man eine repressive Migrationspolitik. 

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Natasha Brown in Zusammenkunft über den Suprematie-Anspruch, die Empire-Nostalgie und den imperialen Impetus im Schlafrock des Liberalismus der britischen Erb-Elite:

„Heute ist es offensichtlich, ist im Rückblick so unanfechtbar wie die Irrationalität der Quadratwurzel aus zwei, dass (die weißen/kolonialen) Supermächte weder unfehlbar noch überlegen sind. Sie haben nichts, ohne ihre mit äußerster Brutalität erzwungene Vorherrschaft. Eine organisierte, systematische Brutalität, die ihre verweichlichten, schwächlichen Kinder kaum ertragen, nicht mal zur Kenntnis nehmen können. An die sie sich trotzdem als Wahrheit klammern. Ihr Absolutheitsanspruch war nie legitimiert, es gab keinen Befehl von Gott. Bloß bösartigen, willkürlichen Zufall. Und dann, Verzinsung.“

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“Du, der du meine Belastungen teilst,/ dem die Zeit unrecht tat, sage mir/ wo ist dein Traum, deine Vision?“ Yirgalem Fisseha Mebrahtu

Kämpfende Frauen 

Aya Cissoko wird, sie selbst weist darauf hin, als Beispiel für gelungene Integration gefeiert. Ihre Erfolge sollen zumal postmigrantisch sozialisierte Schüler:innen anspornen. Die in einer Pariser Cité aufgewachsene Tochter von Analphabet:innen brillierte als Spitzensportlerin, bevor sie als Schriftstellerin Anerkennung erfuhr.    

Eine Bemerkung zu ihrer Hautfarbe eröffnet das Memoir.

„In Frankreich ist meine … Hautfarbe politisch.“

Zwischen Initiation und Information

Die Migration bestellt Kinder zur Aufsicht über ihre in der ersten Runde der Migration in die Seile gedrängten Eltern. Die Eltern sind schon angeschlagen in den Ring gestiegen. Die neuen Verhältnisse geben ihnen keine Kraft. Vom Nachwuchs werden sie als Krisenherde wahrgenommen. Die Jungen versichern sich gegen die Anfälligkeit der Alten mit Abwehr. Manche identifizieren sich mit den Aggressor:innen, bis sie begreifen, dass ihnen das nicht weiterhilft.

Der Kampf geht weiter.

Kaum verbessert haben sich die Chancen in den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, seit Aya Cissokos Eltern von Mali nach Frankreich migrierten. Cissoko wuchs - nahe dem Père Lachaise - in einer hochmütig-feindlichen Umgebung auf. Ihre Würde, ein wichtiges Wort für die Autorin, stand ständig auf dem Spiel. Cissoko bewährte sich auf einem Parcours der Gefährdungen. „Bis zum Exzess (trieb sie) Sport, Savate, Judo, Volleyball, Bogenschießen … der erste Meister, Yves Gardette (war) ein ewig junger Mann, noch von der alten Schule … Er (verbrachte) endlose Zeit damit, uns den perfekten Schlag beizubringen.“ (Zitiert aus Aya Cissoko, „Ma“, Deutsch von Beate Thill, Roman, Verlag Das Wunderhorn, 188 Seiten, 24.80,-)

Sie informiert, nein, sie initiiert ihre Tochter, indem sie ihr von dem alltäglichen Daseinskampf und mehr noch, vom Kampf ihrer Mutter erzählt.

„Dieser Text ist ein Testament und ein Kompass, der dir helfen soll, stark zu sein.“

Die (im Text) Namenlose soll wissen, dass sie „kein Kind von Nichts und Niemand“ ist.

Aya Cissoko, „Kein Kind von Nichts und Niemand“, übersetzt von Beate Thill, Verlag Das Wunderhorn, 110 Seiten, 22,-

Die Erzählerin, zweifellos identisch mit der Autorin, sieht sich in einer Tradition durchsetzungsstarker Frauen. Sie selbst verkörperte bis zu einem schweren Unfall die Weltspitze (zuerst) im Kickboxen und (dann im) Boxen.

Ein Halswirbelbruch beendete die sportliche Laufbahn. Eine Operation misslang. Das Rückenmark wurde verletzt.

„Meine rechte Seite (war) gelähmt.“

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Cissoko memoriert die Opfer, die von ihren Vorfahren in rassistischen Gesellschaften, namentlich im kolonisierten Mali und in Frankreich, erbracht wurden - mit einer selbstzerstörenden, den Nachkommen aufopferungsvoll einen Weg bereitenden Entschlossenheit.

Wieder und wieder beschwört die Autorin den Namen ihrer Mutter - Massiré Dansira. Deren Geburtsdorf - Kakoro Mountan - erscheint als verlorenes Paradies und Schauplatz einer verlorenen Zeit der eindeutigen Bambara-Identität; obwohl die Ursprungskultur von den französischen Kolonisatoren in einer permanenten Abwertungskampagne geschwächt wurde.

„Die Sieger hatten die Geschichte umgeschrieben.“

Ein gewaltsam ums Leben gekommener Vater bot in seiner Abwesenheit eine grenzenlose Projektionsfläche. Die tatkräftige, pädagogisch robuste, allegorisch-elementar auftrumpfende Mutter verlangte, dass Aya nicht ihr Herkunftserbe ausschlug. Nach dem Unfall avancierte die alleinerziehende Reinigungskraft zur letzten Instanz. Die grandiosen Ersatzväter und Meisterinnenmacher verloren ihre Omnipotenz im Leben der versehrten Athletin. Die Mutter kam ins Krankenhaus und salbte ihre Tochter mit Feuchtigkeitscreme aus dem Discounter. Herrschte sie an, einer alten Gewohnheit gehorchend:

„Jetzt musst du endlich stillhalten, nach dem du dich nicht mehr rühren kannst.“ (Zitiert aus „Ma“)

Aya beschloss:

„Ein Leben vor dem Tod zu haben.“

„Die Welt ist alt, aber die Zukunft entsteht aus der Vergangenheit.“ Mandingue-Sprichwort, zitiert nach Aya Cissoko

Cissoko spricht ihre Tochter direkt an. Deren leiblicher Vater, ein Nachfahre ursprünglich ukrainisch basierter aschkenasischer Juden, die im 19. Jahrhundert vor Pogromen nach Frankreich flohen, spielt keine Hauptrolle in der vermächtnishaften Erzählung. Zwei lange Verfolgungs- und Herabsetzungs-Schicksalslinien treffen sich (hoffnungsvoll und empowert möchte ich sagen: enden) im Moment der Zeugung. Zugleich begegnen sich Ausnahmeerscheinungen, die das Leid und die Not der Ahn:innen titanisch überschatten. 

Jean-François Chermann wirkt als Neurologe an Cissokos wundersamer Wiederherstellung mit. Der Sohn eines bahnbrechenden Virologen (Jean-Claude Chermann) trägt nichts unter seinem Kittel, als sich die Rekonvaleszentin und der auf Sporttraumata spezialisierte Arzt zum ersten Mal begegnen.

„Im selben Augenblick sah ich, dass er unter dem Arztkittel nichts anhatte.“

Die Autorin arrondiert den biografischen Gegenpol. Ein Kollege erinnerte sich einst schriftlich an die Familie - François Cavanna in Les Ritals. Der von italienischen Einwanderer:innen abstammende, im Diskriminierungsdickicht von Nogent-sur-Marne zugelassene Cavanna sympathisierte mit der Chermann-Dynastie, deren Herrscherin jederzeit als „neapolitanische Mamma“ auftreten konnte.

Keine einzige Vorliebe verbindet die Patientin mit dem Arzt. Der extrovertierte Bourgeois in Mokassins liegt der unter ihrer Stilllegung schrecklich Leidenden nicht. Und doch wird die Verschlossene mit dem Aufgekratzten zusammen die Zukunft einrühren. 

„Dein Vater fühlte sich sehr komisch, als er eines Tages eine Einladung für Monsieur Cissoko erhielt.“

Dazu bald mehr.

Aus der Ankündigung

In ihrem neuen Buch schreibt Aya Cissoko an ihrer Familiengeschichte und den Lebensbedingungen, unter denen Schwarze Jugendliche in Frankreich aufwachsen, weiter. Es ist ein Brief an ihre  Tochter, deren Existenz sie veranlasst, erneut ihre Stimme zu erheben, um über Diskriminierung, Rassismus, die Vorurteile und Urteile zu schreiben, denen Schwarze Menschen tagtäglich in Frankreich ausgesetzt sind. Nicht ausgelassen wird dabei die damit verbundene, tief sitzende Schande, die diskriminierte Menschen oft gegenüber ihren eigenen Familien und Verwandten empfinden.

Aya Cissoko analysiert die sozialen Hierarchien, zeigt auf,  wie sich Rassismus und Klassen-Verachtung mit einer absurd verworrenen und immer weiter existierenden Logik vermischen. Sie geht der Frage nach, ob sich die Umstände für die Ihren heute geändert haben, wenn sie sie mit denen ihrer Eltern, die als Analphabeten und Arbeitsemigranten in den 1970er Jahren aus Mali nach Paris kamen, und ihrer eigenen Kindheit Ende der 1980er Jahre in einem Pariser Ghetto vergleicht.

Das Buch ist familiäre Spurensuche, die zu einer zweifachen Geschichte von Gewalt und Schmerz geführt hat: Cissokos Vorfahren waren Krieger aus dem Stamm der Bambara, die gegen die Kolonisierung gekämpft haben; der Vater ihres Kindes stammt aus einer Familie aschkenasischer Juden, die Auschwitz überlebt haben. Aya Cissoko hat ein außergewöhnliches und emotionales Buch geschrieben, das all denen heute eine Stimme verleiht, die von der Gesellschaft noch immer durch Diskriminierung und Ausgrenzung unsichtbar gemacht werden und oft zum Schweigen verdammt sind.

Zur Autorin

Aya Cissoko wurde 1978 in Frankreich geboren. Ihre Eltern kamen Anfang der 1970er Jahre aus Mali nach Frankreich. 1986 kommen ihr Vater und ihre Schwester bei einem Brandanschlag in Paris ums Leben. Sie entdeckt das Boxen für sich als Rückzugsort und wird 2006 Amateur-Boxweltmeisterin. Ein Bruch der Wirbelsäule beendet 2010 ihre Boxkarriere. 2011 veröffentlicht sie (zusammen mit Marie Desplechin) ihr erstes Buch, »danbé«, das unter dem Titel Wohin ich gehe verfilmt wurde. Sie studiert Politikwissenschaften am Institut d’études politiques in Paris. 2016 erschien ihr zweites Buch n’ba, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Sie lebt in Paris.