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2023-05-02 10:43:19, Jamal

„Halte Ausschau nach dem, was niemand außer dir bemerkt.“ Rick Rubin

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© Jamal Tuschick

Randgemarkung 

Landgraf Karl von Hessen-Cassel gründete 1709 das Collegium Carolinum im Stil einer Ritterakademie. Der Landesherr stiftete eine Anatomiekammer und ein Observatorium. Kurhessens aristokratischer Nachwuchs sollte im Wettbewerb mit den Besten des Volkes für die drei hohen Fakultäten Rauchen, Trinken … aka Theologie, Jura, Medizin fit gemacht werden. 1738 kam das Collegium Medico-Chirurgicum zur Verbesserung der Feldscher (Militärchirurgen) dazu. Der Enthusiasmus verebbte rasch. Bald gab es nur noch einen Lehrer.

Während des Siebenjährigen Krieges (1756 - 1763) setzte sich Karls Sohn Friedrich II. nach Braunschweig ab. Da ließ sich der Evakuierte das von Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem 1745 ins Leben gerufene Carolinum zeigen. Nach seiner Rückkehr wertete er das Kasseler Carolinum auf. Unter anderem lehrte da Samuel Thomas von Soemmerring. 1777 gliederte sich die „Académie de Peinture et de Sculpture de Cassel“ als Vorläuferin der Kunsthochschule Kassel aus.  

Am liebsten trieben sich Studiosos Collegii Carolini im Reinhardswald und in anrüchigen Randgemarkungen herum. Da lagen Wüstungen schon lange in ritterlicher Schwermut brach- und danieder. Zerfallene Kirchen und Burgen - die Studierenden gingen in Ruinen auf Sauenhatz. Sie jagten mit schrecklichen Hunden, wahren Bestien, die mit dem wilden Dasein liebäugelten. Nach alter Art jagten die Studierenden mit Lanzen. Sie gingen sich gegenseitig an die Gurgel in der Festlichkeit eines andauernden Rausches. Bäuerinnen und Bauern beschwerten sich über die juvenile Elite, S.K.H. dachte sich, wer zum Militair will, sollte zu fromm nicht sein. Das Hauen und Stechen war nun einmal in der Welt, und wer am besten haute und stach, ward der Schlechteren Vorgesetzter.

Die akademische Jugend ritt, der Esse folgend, zum Ahlberg hin, einem von Zeit zu Zeit Lava gurgelnden Vulkan tief im nordhessischen Dschungel. Die Reiter:innen passierten die verlassene und zerfallene, 1019 erstmals als Reginhereshuson erwähnte Siedlung Reinersen. Allenthalben boten sich eisenzeitliche Schanzen im Wechsel mit mittelalterlichen Burgruinen barocken Phantasien an.

Unter den Debütant:innen befand sich ein Unsterblicher der fatalsten Sorte. Als Burgmann, High-Society-Kuppler und Jetset-Pusher war Rotger im 12. Jahrhundert aus den Nebeln der Weserauen aufgetaucht. Einem Landgrafen nach dem nächsten besorgte er die Mätressenwirtschaft. Rotger schloss jeden üblen Handel ab.  

Er war bis in alle Ewigkeit mit Jette verheiratet, auch sie eine Unsterbliche aus dem Geschlecht des geknickten Liebreizes. Jettes Ahnen war Padischahs der Chatten gewesen und hatten den Franken schon unter dem großen Karl die Gefolgschaft verweigert.  

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In den 1770er Jahren entstand auf dem Wilhelmsplatz das Hôpital des français refugiés nach Plänen des Stadtbaumeisters Simon Louis du Ry. Das Krankenhaus diente den Armen. Wer es sich leisten konnte, rief einen Arzt zu sich nach Hause.

Brave Bürger:innen verbrachten keinen Tag in so einer zwischen Kranken-, Armen-, und Findelhaus changierenden Einrichtung des Fortschritts. Doch der Armut lieferte die Aussicht, nicht zu erfrieren bereits einen Vorgeschmack auf das Paradies. Eine hochmoderne Institution war der Drehkasten zur anonymen Säuglingsabgabe.

Friedrich II. fühlte sich der Wohlfahrt verpflichtet. Er kam aber nicht umhin, einen Missbrauch der landgräflichen Großzügigkeit festzustellen. Nicht zuletzt Sexarbeiterinnen erreichten die Gnadenstation aus dem Ausland (Kurfürstentum Hannover, Herzogtum Braunschweig), um in Kassel zu entbinden.

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Als im 17. Jahrhundert in Brandenburg ein Zuchthaus in Betrieb genommen wurde, war bei der Einweihungsfeier vom Strafrecht nicht die Rede. Sinn der Sache war die Nutzung billiger Arbeitskräfte - das Zuchthaus als Manufaktur. Der Landesherr gab die Ausbeutung der Insassen in private Hände, die Pächter:innen setzten den Sanktionskatalog der Haftordnung zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen ein. Versuchter Selbstmord wurde hart bestraft nicht bloß als Verstoß gegen Gottes Willen. Für kriminell erachtete man die Nachteile für die Unternehmer:innen. Die Zuchthäuser unterschieden sich von Gefängnissen, in denen sich Freiheitsentzug mit Leibesstrafe paarte und der Gefangene in kein ökonomisches Kalkül gezogen wurde. Im Licht der Aufklärung hielt man Gefängnisse für rück- und Zuchthäuser für fortschrittlich.

Anregungen aus den evangelischen Niederlanden bewogen den ewigen Regenten Landgraf Karl von Hessen-Cassel zum Bau eines zweistöckigen Zuchthauses als Besserungsanstalt an der Fulda. Im Obergeschoss arrestierte man die Frauen, so sie gegen das Kaffeeverbot** verstoßen oder lüderliche Verbrechen verübt hatten. Allen Verurteilten war Pfeifen und Lärmen verboten. Erwartet wurde ein in sich gekehrtes Betragen. 

Tabak rauchen war bei guter Führung erlaubt, Tabak kauen aber unter keinen Umständen.

**Es gab medizinische Einwände gegen Kaffee.