„Und undenkbar zunächst und ganz und gar ungeheuerlich erkannte (Baran) in (Cla) den Geliebten. Da schlug sie das Glück.“
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„Sie gaben dem täglichen Nichts seinen Glanz, indem sie sich davon erzählten. Und dann war es doch kein Nichts mehr, es waren ihre Geschichten.“
Elegische Verdichtung
Die aus Graubünden gebürtige Lehrerin und Alpinistin Alva befleißigt sich des Bergsteigerinnen-Jargons, wenn sie dem beinah haltlosen Geliebten ihres ehemaligen Beinah-Gatten Cla den eigenen Führungsanspruch mit dem Begriff der Vorsteigerinnen-Moral klarmacht.
„Vorsteigermoral, hatte Alva gesagt … die, die (in einer Felswand) vorsteige, habe … das größere Risiko.“
Angelika Overath, „Unschärfen der Liebe“, Roman, Luchterhand, 221 Seiten, 22,-
Baran Anatol Chronas erinnert sich an die Feststellung während einer Zugreise von Chur nach Istanbul. Ob Alva so auch eine Kritik an Barans fahrigem Dasein äußerte? Ihre Tochter stammt von Cla, der mit Baran ein neues Kapitel in seinem Liebesbuch aufschlug.
Welche Rolle spielt Cla, „der jahrelang Alva nicht geheiratet hatte, als Erzeuger von Florinda?
Auch den expatriierten Engadiner Gelehrten und Lehrer (mit einer rheinländischen Mutter) zeichnet eine kristallklare Existenz aus. Er betreibt Studien zu Nikolaus von Kues, der - als Kirchenpolitiker ersten Ranges - 1437 von Basel nach Konstantinopel und schließlich weiter nach Venedig reiste.
Außerdem unterrichtet Cla die Kinder reicher Istanbuler:innen. Baran rechnet nicht mit der Treue des Vorzüglichen. Monogamie wurde nicht vereinbart. Auch deshalb begleitet den Reisenden ein leises Unbehagen. Baran verfolgt den Wechsel der Landschaften vor dem Fenster. Gleichzeitig memoriert er Eindrücke im Spektrum zwischen „Lichtschock … Schneegipfel … dem Schmelz von Flussauen“, die in den soeben zu Ende gegangenen Sommerferien zu einem - gemeinsam mit Cla, Alva und Florinda gehobenen - Schatz wurden.
Auf einer dritten Ebene dazu kommen Bosporus-Impressionen - der Puls des „Marmarameers im Abendlicht“.
In dieser elegischen Verdichtung bedenkt Baran die ruinöse Verfassung seiner Verhältnisse. Der eskapistische Lebensentwurf vergammelt in der rissigen Hülle der fortgeschrittenen ersten Lebenshälfte.
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Cla ist schon mal vorgeflogen. Baran problematisiert sein Verhältnis zum Luftverkehr. In seinem biografischen Gepäck wiegt eine griechisch-türkische „Gastarbeiter“-Herkunft mit topografischen Rheinland-Marken am schwersten. Der Sohn einer muslimischen Mutter und eines griechisch-orthodoxen Vaters bekam einen „Taufpaten“ direkt aus der bundesrepublikanischen Ursuppe. Der Sohn von ‚Heimatvertriebenen‘ mochte evangelisch oder katholisch sein, im Wirtschaftswunderdeutschland war er jedenfalls kaum weniger fremd als Barans Eltern. Ein in Berlin abgebrochenes Psychologiestudium erweitert klischeehaft und genretypisch einen Parcours des Scheiterns. In Istanbul fährt Baran Taxi, jobbt in Restaurants, und übersetzt Gedichte. Das alles illustriert die in einem Dauerprovisorium steckengebliebene Postmigration als merkwürdig konzise Fortsetzung der Einwanderungslebenslaufsackgassen.
Baran erscheint im Roman als ein eher unfreundlich betrachteter Charakter. So als habe eine Passagierin aus Langeweile und Passion sich den Fahrgast vorgenommen und sei dabei auf nichts Ansprechendes gestoßen. Alva, Cla und Florinda glänzen hingegen.
Die Autorin erzählt unter anderem die Geschichte einer Engadiner Preziosen-Gattung: den Morins. Sie erwähnt die osmanische Knabenlese und den Schädelturm von Niš; (auf Geheiß des Sultans Mahmud II.) errichtet von Hurschid Ahmed Pascha (an der Istanbul via Sofia mit Belgrad verbindenden Heerstraße) aus beinernen Schlachtfeldhinterlassenschaften serbischer Freischärler:innen, die 1809 bei der Schlacht von Čegar gefallen waren. Der Bauherr war ein kaukasisch-georgisches Opfer der Knabenlese, das sich unter Janitscharen hervortat und in der permissiven Funktionselite des Sultanats aufstieg.
In Sofia wechselt Baran den Zug.
Aus der Ankündigung
Eine Zugreise von Chur bis nach Istanbul: Angelika Overath erzählt eine west-östliche Fahrt durch den Balkan. Wie viel Freiheit kann es geben zwischen drei Menschen unterschiedlicher Kulturen, die einander suchen und sich selbst finden?
Als Baran im schweizerischen Chur den Zug besteigt, ahnt er bereits, dass nichts mehr so sein kann, wie es war. Sein Lebenspartner Cla entfremdet sich ihm. Und auch er hat sich verändert. Er liebt Cla, aber nun hat er die Bündnerin Alva, Clas vorherige Partnerin und Mutter ihres gemeinsamen Kindes Florinda, kennengelernt. Was bedeutet diese unerwartete Nähe? Je länger Baran aus dem Zugfenster schaut, hinter dem die Landschaften ihr Gesicht wechseln, je vertrauter ihm die Menschen in den Abteilen werden mit ihren Geschichten, desto mehr mischen sich Erinnerungen und gegenwärtiges Erleben. Orte und Zeiten gehen ineinander über. Im Nachtzug von Sofia nach Istanbul bricht eine Entscheidung auf, die am Ende alle überraschen muss.
Zur Autorin
Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin und hat die Romane „Nahe Tage“, „Flughafenfische“, "Sie dreht sich um" und "Ein Winter in Istanbul" geschrieben. "Flughafenfische" wurde u.a. für den Deutschen und Schweizer Buchpreis nominiert. Für ihre literarischen Reportagen wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Sent, Graubünden.