MenuMENU

zurück

2023-05-18 10:53:36, Jamal

Korrektur des Wählerwillens

„Mit der Annexion der Krim wurden Imperialismus und Nationalismus zu zentralen Elementen und Triebkräften der russischen Außenpolitik.“ Serhii Plokhy

*

Sehen Sie auch hier und hier und hier.

*

„Zwischen Ausnahmezustand und Alltag vergeht die Zeit und scheint doch stillzustehen.“ Daniel Schulz über den ukrainischen Kriegsalltag im Mai 2022

*

„Alles hier besitzt eine filmische Qualität von Unwirklichkeit. Die Leute erzählen Witze.“

Sergej Gerassimow am Morgen des 24. Februars 2022. Der Krieg hatte Stunden zuvor begonnen. Der Autor beobachtete „das rote Glühen von Explosionen, die noch jenseits des Horizonts (lagen)“.

Korrektur des Wählerwillens

Russlands Machtgeografie stiftet schon in den frühen 1990er Jahren eine Bedrohungslage, die die ukrainische Regierung von älteren Verabredungen absehen lässt.

„1990 … verpflichtete sich die Ukraine zu einem nichtnuklearen Status.“  

Endlich stimmt sie der Vernichtung ihrer Atomwaffen „unter internationaler Aufsicht“ zu.

In den kommenden Jahren kopieren ukrainische Spitzenpolitiker:innen russische Rezepte. Die ukrainische Wirtschaft gerät noch stärker unter Druck als die russische.

Für die Russ:innen war das letzte Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende vielleicht sogar schwerer als die unmittelbare Nachkriegszeit. Es wurde gestorben „wie in einem offenen Krieg“.

„Man schätzt, dass allein in Russland zwischen 1989 und 1995 1,3 bis 1,7 Millionen Menschen vorzeitig starben.“ Vor allem Menschen mittleren Alters erlagen „psychischem Stress“ in Prozessen, die das Überkommene finalisierten. Zitate aus: Ivan Krastev/Stephen Holmes, „Das Licht, das erlosch“

Während in Russland das demokratische Gerüst zügig demontiert wird, halten die Ukrainer:innen an freiheitlichen Aushandlungsformeln weitgehend fest. Das schließt Machtmissbrauch und Korruption nicht aus.

Plokhy geht ins Detail. Er schildert sämtliche Stadien der parallelen Entwicklungen hin zu den Oligarchien.

*

Russlands historisch und strategisch begründeter Anspruch auf die Krim und den Stützpunkt der Schwarzmeerflotte (Sewastopol) verweist auf eine doppelbödige Praxis. Reizpunkte und Streitthemen bieten die Grenzverläufe zwischen Russland und den sezessionistischen Gesellschaften. Nachdem der Sowjetschirm zugeklappt wurde, bilden die russischen Minderheiten in den GUS-Staaten zwar nicht mehr die bestimmende Klasse. Trotzdem repräsentieren sie einen Hegemonialanspruch. 

Im Sommer 1992 verkündet das Parlament der Oblast Krim seine Eigenstaatlichkeit. Siehe Autonome Republik Krim. Die Regierung in Kyjiw erreicht gewaltfrei eine Wiedereingliederung. Die Angelegenheit geht als Rechtsstreit über die Bühne. 1994 kriegt die Krim (vorübergehend) ihren eigenen Präsidenten - Juri Meschkow. Der Separatist plädiert für ein zweites Referendum. Der Stadtrat von Sewastopol fordert die „Anerkennung der russischen Gerichtsbarkeit“ in seiner, von der Krimrepublik ausgeschlossenen Stadt. Ab 1994 konsolidiert der ukrainische, später ins Fadenkreuz der Justiz geratende Präsident Leonid Kutschma die Verhältnisse zugunsten staatlicher Geschlossenheit. Die militärische Intervention Russlands bleibt in der hart vorgetragenen Aushandlung eine ständige Drohung. Dazu an anderer Stelle bald mehr.

Serhii Plokhy, „Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt“, übersetzt von Bernhard Jendricke und Peter Robert, Hoffmann und Campe, 26,-

In den ersten Morgenstunden des 27. Februars 2014 stürmen Uniformierte in Simferopol das Parlament der Krim. Die Usurpatoren tragen keine Hoheitszeichen. Ministerpräsident Anatolij Mohiljow interpretiert den Vorgang richtig als machtergreifende Maßarbeit von Spezialisten. Die höchste Autorität der Krim, eingesetzt von dem nach Russland geflohenen, mit Haftbefehl gesuchten, frisch abgesetzten ukrainischen Staatschef Wiktor Janukowytsch, informiert telefonisch eine Regierungsstelle. Kyjiw enthält sich „klarer Anweisungen“. Die Administrator:innen sind quasi seit gestern erst im Amt. „(Sie) haben noch nicht die volle Kontrolle über die Streitkräfte und den Sicherheitsapparat.“

Die Angreifer kommen mit präzisen Vorgaben. Sie setzen einen Plan in die Tat um. Sie internieren Kabinettsmitglieder:innen in einem beschlagnahmten Gebäude. Da müssen die Arrestierten unter Aufsicht über eine „vorbereitete Resolution“ abstimmen. Sie tun, was sie sollen, indem sie einen Gangster zum Ministerpräsidenten ‚wählen‘. Dessen Partei hatte bei den letzten Parlamentswahlen auf der Krim „vier Prozent der Stimmen erhalten … das spielte keine Rolle mehr: Die Männer mit den Kalaschnikows sorgten für die Korrektur des Wählerwillens“.     

Aus der Ankündigung

Welche Folgen hat Russlands Angriff in den kommenden Jahrzehnten für den Westen und die Welt? Dieses hochaktuelle, dringende Buch gibt Antworten auf entscheidende Fragen unserer Zeit.

In seinem neuen Buch gibt der renommierte Historiker und Ost-Europa-Experte Serhii Plokhy Antworten darauf, wie Russlands Krieg die Weltordnung der nächsten Jahrzehnte verändern wird. Er erzählt von einem ukrainischen Volk, das als Frontstaat im jetzt anbrechenden neuen Kalten Krieg endlich seine Identität gefunden hat. Und  er skizziert eine globale Außenpolitik, die sich wieder weg von ökonomischer Kooperation, hin zu Dominanz, Vasallenstaaten und militärischer Stärke entwickelt – mit gravierenden Folgen für uns alle. Nur wenn der Westen sich dieser Realität stellt, wird er in Zukunft seine Freiheit behaupten können.

Zum Autor

Serhii Plokhy ist Professor für ukrainische Geschichte in Harvard und Direktor des ukrainischen Forschungsinstituts der Universität. Plokhy ist Autor zahlreicher Bücher zur osteuropäischen Geschichte, darunter das preisgekrönte Werk "The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union", für das er den Lionel-Gelber-Preis erhielt, und "Chernobyl. History of a Tragedy", das mit dem Baillie-Gifford-Preis ausgezeichnet wurde.