Serhii Plokhy hält es für möglich, dass Putin im Vorfeld nicht eine Person konsultierte.
„Die Entscheidung für den Krieg (ging) allein auf Putin …zurück.“
„Angeblich soll Lawrow auf die Frage, wer Putins Berater sei, geantwortet haben: Peter der Große, Katharina die Große und Alexander II.“
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„Die acht Jahre der hybriden Kriegsführung Russlands gegen die Ukraine … verwandelten die Ukraine in ein anderes Land, als sie es 2014 gewesen war, und veränderten auch ihre Gesellschaft.“
Die militanten Übergriffe einten die Bevölkerung. Sie „homogenisierten“ die Gesellschaft. Diese Feststellung trifft Serhii Plokhy. Er führt aus: „Die Entwicklung der ukrainischen politischen Identität“ begann mit der Ablehnung sowjetischer Symbole in der Keimzeit der ukrainischen Unabhängigkeit.
Plokhy listet die Phänomene eines über viele Demarkationslinien hinausgehenden Konsenses auf, der um 2015 bildbestimmend war. Vorübergehend erhöhte sich - „in einem Akt des Trotzes“ - die Bereitschaft russisch basierter Ukrainer:innen, auf die angestammte Umgangssprache zu verzichten. Der Konsens zeigte sich in der Akzeptanz des Ukrainischen „als Amts- und Unterrichtssprache“. Es gab einen Publikationshype in ukrainischer Sprache.
„Werke über ukrainische Geschichte und Kultur kletterten auf die obersten Ränge der Bestsellerlisten.“
Serhii Plokhy, „Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt“, übersetzt von Bernhard Jendricke und Peter Robert, Hoffmann und Campe, 26,-
Kirchliche Kollaborationen brachen die russisch-orthodoxe Hegemonie und konsolidierten eine ukrainische Orthodoxie. Die staatlichen Interventionen auf den Feldern der Sprach- und Erinnerungspolitik sowie der Religion stießen nicht nur in prorussischen Kreisen auf Kritik. Das liberale Establishment artikulierte Vorbehalte gegen eine amtliche Homogenisierung kultureller Emanationen; während „ein großer Teil der Bevölkerung“, so Plokhy, darin nur eine Reaktion „auf Russlands aggressivem Einsatz kultureller und historischer Themen als Waffe“ sah.
Putins Pan-Russisches Projekt
Putin liebt mythologische Deutungen im Themenkreis der Kyjiwer Rus. Im Einklang mit dem Kanon von Nikolaj Ustrjalow bis Alexander Solschenizyn verortet er den mittelalterlichen Geburtsort der russischen Nation auf ukrainischem Boden. Da soll sich eine ursprüngliche Einheit herausgebildet haben.
Plokhy widerspricht:
„In Wirklichkeit war die Kyjiwer Rus ein multiethnisches Gemeinwesen.“
Durch die polnischen und litauischen Fenster sah die Ukraine von jeher nach Westen. In einem Essay klassifiziert sie Putin als „als ein Sprungbrett gegen Russland.“ Gleichzeitig postuliert er eine ‚völkische‘ und geistige Identität, „die uns zu einem einzigen Volk machen“.
Den als „Spezialoperation“ deklarierten Angriffskrieg leugnete er bis zum Vortag der Invasion.
“And yet as Russian President Vladimir Putin declared a ‘special military operation’ in the early hours of Feb. 24, none of them could quite believe what was happening. ‘We thought they would try to take more territory in eastern Ukraine,’ says Rudenko. ‘Not that it would be a full-fledged war.’“ Olga Rudenko in Time, Quelle
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„Russische Einheiten haben ihre Bereitstellungsräume verlassen und sich offenbar in Angriffsstellung begeben … Zudem sorgt eine mysteriöse Markierung auf Panzern für Aufsehen.“ Jonas Roth am 21.02.2022 in der NZZ, Quelle
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„Bis zum Schluss glaubten wir nicht, dass der Feind mit einer großräumigen Operation an allen Fronten und über alle Linien hinweg eindringen würde.“ General Dmytro Krassylnykow, Held der Ukraine, zitiert nach Serhii Plokhy
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„Alles hier besitzt eine filmische Qualität von Unwirklichkeit. Die Leute erzählen Witze.“
Sergej Gerassimow am Morgen des 24. Februars 2022. Der Krieg hat gerade begonnen. Der Autor beobachtet „das rote Glühen von Explosionen, die noch jenseits des Horizonts liegen“.
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„In diesem Moment wurde mir klar, dass kein Feind jemals die Chance haben würde, die Ukraine zu besiegen.“ Sergej Gerassimow
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„Die Menschen bluten aus der dahingeschlachteten Stadt.“ Sergej Gerassimow
Legerer Einmarsch
Am 24. Februar 2022 dynamisiert sich der Aufmarsch zu Belgorod. Russische Truppen überqueren die ukrainische Staatsgrenze. Sie steuern Charkiw an. Nach dem Verlust von vier Panzern unterbrechen sie ihren Vorstoß. Die Verschnaufpause währt drei Tage. Wie müde Wanderer schlurfen die Soldaten schließlich in die Stadt. Sie wirken „weder wachsam noch kampfbereit“.
Der legere Einmarsch legt die Vermutung nach, dass die Usurpatoren von den Bürger:innen das freundlichste Entgegenkommen erwarten.
Gerassimow erklärt: „Damit lagen sie völlig falsch … Die Russen fühlten sich zurückgewiesen, beleidigt und verachtet.“
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Zuerst fällt die Heizung aus. „Es gibt kein Wasser in den Leitungen.“ Gerassimow will sich im Internet ein Bild von seiner Lage machen. Doch nur der „alltägliche Informationsmüll“ türmt sich auf. Zum ersten Mal sondiert der Autor die Geräusche des Krieges. Noch findet die akustische Differenzierung auf dem Niveau der Comicsprechblasenpoesie statt.
Der individuelle Notstand wächst sich umgehend zum neuen gesellschaftlichen Phänomen aus. Die Leute stehen wegen Wasser an. Sie bevorraten sich provisorisch. Mit Galgenhumor stellen sie ihre Kernfestigkeit unter Beweis.
„Im schlimmsten Fall … müssen wir Wasser aus den Pfützen trinken.“
Zitiert aus: Sergej Gerassimow, „Feuerpanorama. Ein ukrainisches Kriegstagebuch“, auf Deutsch von Andreas Breitenstein, dtv, 249 Seiten, 22,-
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Plokhy hält es für möglich, dass Putin im Vorfeld nicht eine Person konsultierte.
„Die Entscheidung für den Krieg (ging) allein auf Putin …zurück.“
„Angeblich soll Lawrow auf die Frage, wer Putins Berater sei, geantwortet haben: Peter der Große, Katharina die Große und Alexander II.“
Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Welche Folgen hat Russlands Angriff in den kommenden Jahrzehnten für den Westen und die Welt? Dieses hochaktuelle, dringende Buch gibt Antworten auf entscheidende Fragen unserer Zeit.
In seinem neuen Buch gibt der renommierte Historiker und Ost-Europa-Experte Serhii Plokhy Antworten darauf, wie Russlands Krieg die Weltordnung der nächsten Jahrzehnte verändern wird. Er erzählt von einem ukrainischen Volk, das als Frontstaat im jetzt anbrechenden neuen Kalten Krieg endlich seine Identität gefunden hat. Und er skizziert eine globale Außenpolitik, die sich wieder weg von ökonomischer Kooperation, hin zu Dominanz, Vasallenstaaten und militärischer Stärke entwickelt – mit gravierenden Folgen für uns alle. Nur wenn der Westen sich dieser Realität stellt, wird er in Zukunft seine Freiheit behaupten können.
Zum Autor
Serhii Plokhy ist Professor für ukrainische Geschichte in Harvard und Direktor des ukrainischen Forschungsinstituts der Universität. Plokhy ist Autor zahlreicher Bücher zur osteuropäischen Geschichte, darunter das preisgekrönte Werk "The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union", für das er den Lionel-Gelber-Preis erhielt, und "Chernobyl. History of a Tragedy", das mit dem Baillie-Gifford-Preis ausgezeichnet wurde.