„Zwischen Ausnahmezustand und Alltag vergeht die Zeit und scheint doch stillzustehen.“ Daniel Schulz über den ukrainischen Kriegsalltag im Mai 2022
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„Manchmal scheint der Krieg von einer Straßenseite zur anderen gesprungen zu sein wie ein übermütiges Tier.“ Daniel Schulz über den Alltag in einem angegriffenen Land. Die Beobachtung machte der Autor im Mai 2022 in Schytomyr.
Mehr Freiwillige als Waffen
An dem vergeblichen Versuch der russischen Armee, Kyjiw einzunehmen, waren „zwischen 35000 und 40000 Offiziere und Soldaten“ beteiligt. Nach NATO-Schätzungen fielen bei dem Kommandounternehmen bis zu 10000 russländische* Personen.
*Daniel Schulz verwendet russländisch nicht nur, um das Russische von der Putin’schen Staatsgewalt zu unterscheiden. Zu Recht weist der Journalist daraufhin, dass der Kreml den Blutzoll zumal von „Marginalisierten“ und Kolonisierten entrichten lässt. Schulz übernimmt so eine Unterscheidung, die in Russland standardmäßig gilt: zwischen „Russ:innen als Ethnie“ und dem föderativ Russischen im Briefkopf einer hegemonialen Adresse.
Zitiert aus: Daniel Schulz, „Ich höre keine Sirenen mehr. Krieg und Alltag in der Ukraine“, Reportagen, Siedler, 24,-
Auch Serhij Zhadan spricht von russländisch:
„Die Ukraine verteidigt sich. Lassen Sie uns die Dinge beim Namen nennen: Dass Charkiw, Mykolajiw und Odessa noch immer in ukrainischer Hand sind und es dort keine Filtrationslager und Massengräber gibt, ist nicht der russländischen Gesprächsbereitschaft zu verdanken, sondern unserer Kampfbereitschaft und Widerstandsfähigkeit.“ Serhij Zhadan in der ZEIT am 06.07. 2022, Quelle
Serhii Plokhy, „Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt“, übersetzt von Bernhard Jendricke und Peter Robert, Hoffmann und Campe, 26,-
Der Angriff auf die Hauptstadt löste unter Ukrainer:innen eine so große Einsatzbereitschaft aus, dass es mehr Freiwillige als Waffen gab.
„Ein massenhafter Exodus aus der Stadt setzte ein, aber die längsten Schlangen bildeten sich vor Militärkommissariaten, wo sich Männer freiwillig zu den Einheiten der Territorialverteidigung meldeten.“
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Plokhy schildert Szenen aus der invasiven Frühphase, als überforderte Angehörige des Expeditionsheers sich darüber beklagten, dass sie schon seit mehr als einer Woche im Einsatz waren. Ihre Kommandeure hatten ihnen einen dreitägigen Ausflug in Aussicht gestellt. Das Ziel ihrer Mission kannten sie nicht.
In Butscha brachen hungrige Soldaten in ein Lebensmittelgeschäft ein. Bereits am zweiten Tag der Besetzung begann das Morden. Satellitenbilder zeigten Leichen auf den Straßen ab dem 11. März. „Niemand durfte sie entfernen.“ Als am 1. April ukrainische Streitkräfte in Butscha einrückten, ging erste Schätzungen von 340 getöteten Zivilist:innen aus.
Im Nachgang des missglückten Blitzkriegs veränderte der Kreml die Koordinaten und versäumte dabei die letzte gesichtswahrende Gelegenheit bei den Istanbuler Gesprächen Ende März, siehe Russisch-ukrainische Friedensverhandlungen seit 2022. Hätte Putin in diesem historischen Augenblick Weitsicht besessen, wäre sein Desaster - mit einem hauchdünnen Anstrich des Erfolgs - für ihn glimpflich ausgegangen. Stattdessen ließ der Kreml die Hauptkraftlinie nach Osten verlegen und konzentrierte sich auf die Eroberung des Donbas. Nun zeigten sich die militärischen Schwächen der Usurpatoren. Es gelang ihnen nicht, die Lufthoheit über der Ukraine zu gewinnen.
„Die ukrainische Flugabwehr erwies sich als widerstandsfähig.“
Dazu morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Welche Folgen hat Russlands Angriff in den kommenden Jahrzehnten für den Westen und die Welt? Dieses hochaktuelle, dringende Buch gibt Antworten auf entscheidende Fragen unserer Zeit.
In seinem neuen Buch gibt der renommierte Historiker und Ost-Europa-Experte Serhii Plokhy Antworten darauf, wie Russlands Krieg die Weltordnung der nächsten Jahrzehnte verändern wird. Er erzählt von einem ukrainischen Volk, das als Frontstaat im jetzt anbrechenden neuen Kalten Krieg endlich seine Identität gefunden hat. Und er skizziert eine globale Außenpolitik, die sich wieder weg von ökonomischer Kooperation, hin zu Dominanz, Vasallenstaaten und militärischer Stärke entwickelt – mit gravierenden Folgen für uns alle. Nur wenn der Westen sich dieser Realität stellt, wird er in Zukunft seine Freiheit behaupten können.
Zum Autor
Serhii Plokhy ist Professor für ukrainische Geschichte in Harvard und Direktor des ukrainischen Forschungsinstituts der Universität. Plokhy ist Autor zahlreicher Bücher zur osteuropäischen Geschichte, darunter das preisgekrönte Werk "The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union", für das er den Lionel-Gelber-Preis erhielt, und "Chernobyl. History of a Tragedy", das mit dem Baillie-Gifford-Preis ausgezeichnet wurde.