Martialischer Mix aus Husarenchuzpe und NATO-Standard
Kosak:innen gründeten Charkiw im 17. Jahrhundert. Bei der ersten ukrainischen Gegenoffensive, die am 6. September südlich von Charkiw begann, beriefen sich die erfolgreichen Verteidiger:innen auf ihr Kosakenerbe. So heißt die 92. Panzerbrigade nach Iwan Sirko, einem Kavalleristen des 17. Jahrhunderts. Der besonders beherzte Ataman/Hetman (Heerführer) erwarb seinen Ruhm mit „waghalsigen Überfällen“.
Die Nachkommen jener steppenbasierten Reitersoldaten wenden Taktiken ihrer Ahnen im Kampf gegen die Invasoren an. Sie kombinieren Husarenchuzpe mit dem NATO-Standard und erzeugen so „kaskadenhafte Zusammenbrüche“ in den feindlichen Reihen.
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Exekutierte Renaissance
Am 24. Februar 2022 dynamisierte sich der russische Aufmarsch in Belgorod. Truppen überquerten die ukrainische Staatsgrenze. Sie steuerten das fünfzig Kilometer entfernte Charkiw an.
Bildungsballungszentrum
Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine und ein Bildungsballungszentrum des Landes. Der Beschuss traf eine russisch geprägte Bevölkerung. Die Russen attackierten Bürger:innen, „die größtenteils Russisch sprechen, auf Russisch denken und auf Russisch träumen“ (Sergej Gerassimow, „Feuerpanorama. Ein ukrainisches Kriegstagebuch“).
Serhii Plokhy, „Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt“, übersetzt von Bernhard Jendricke und Peter Robert, Hoffmann und Campe, 26,-
Besonders beherzt
Kosak:innen gründeten Charkiw im 17. Jahrhundert. Bei der ersten ukrainischen Gegenoffensive, die am 6. September südlich von Charkiw begann, beriefen sich die erfolgreichen Verteidiger:innen auf ihr Kosakenerbe. So heißt die 92. Panzerbrigade nach Iwan Sirko, einem Kavalleristen des 17. Jahrhunderts. Der besonders beherzte Ataman/Hetman (Heerführer) erwarb seinen Ruhm mit „waghalsigen Überfällen“.
Die Nachkommen jener steppenbasierten Reitersoldaten wenden Taktiken ihrer Ahnen im Kampf gegen die Invasoren an. Sie kombinieren Husarenchuzpe mit dem NATO-Standard und erzeugen so „kaskadenhafte Zusammenbrüche“ in den feindlichen Reihen.
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Um einmal noch auf Charkiw zurückzukommen: im frühen 19. Jahrhundert entstand da die erste ukrainische Universität.
„In den 1830er Jahren stieg die Stadt zum Mittelpunkt der ukrainischen literarischen Romantik auf, deren Anhänger die kulturellen Grundlagen des modernen ukrainischen Nationalgedankens formulierten.“ In den 1920er Jahren, so Plokhy, fungierte Charkiw als Schauplatz einer „ukrainisch-kulturellen Renaissance“, die als „exekutierte Renaissance“ historisch wurde.
Zufällig habe ich eine Referenz mit Quellencharakter. Ossip Mandelstam äußerte sich kritisch zu dieser Blüte. Die kleine Feinschmeckerei soll den ukrainischen Souveränitätsfuror nicht diskreditieren.
Genie und Genre
In den 1920er Jahren besprach Ossip Mandelstam Filme, Inszenierungen, Bücher und kulturelle Tendenzen. Er analysierte literarische Moden. Er knöpfte sich den Unanimismus um Jules Romains vor.
Das Genie nahm das Genre der Rezension auf die leichte Schulter. Er machte die kleinen Sachen mit links. Er machte sich lustig über den Dilettantismus unter der Kunsthaube. Das ukrainische Theater beschrieb er als eine Angelegenheit, die „dem Willen des Zufalls … und der Willkür des Einzeltalents unterworfen“ sei. Man agiere „auf gut Glück“.
Die freundliche Vernichtung erfolgte unter Aufsicht der sowjetischen Zensur. Mandelstam trug nicht schwer an den Bleiplatten der Dummheit. Das unter Kuratel gestellte Talent unterlief die zähe Staatlichkeit. Es spielt die Muntere.
Mandelstam verschwieg den Druck, der auf ihm lastet. Den übelsten Zurschaustellungen sagte er Wundersames nach. Sein Wort für Schund: „urtümliche Theatralik“.
Das ist reiner Hohn:
„... dass in der Ukraine mit der Revolution eine Generation kolossalen, von der Tradition unbelasteten Theatertalents heranreifte - ein Theater ohne Literatur, ohne Psychologie.“
Manchen Verwerfungen der sowjetischen Kulturrevolution begegnete Mandelstam mit bellizistischer Verve.
Irgendwo sagt Heiner Müller, totalitäre Systeme hülfen der Literatur auf ihre Weise. Mandelstam bestätigt die Einschätzung. Ihm schmerzten die Augen bei all dem antibürgerlichen Agitprop.
„Noch eine Eigenart des Beresil: Keinen Moment lang verliert es den Kontakt zum revolutionären Straßenkarneval.“
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Der Dichter sah eines Tages (zwischen 1925 und 1929) im Kino eine „ungeheuerliche Zusammenkleisterung“.
Da geht Mandelstam ein Licht auf:
„Die Krim mit ihren Hammelfleischklößen und Minaretten ist schon an sich ein verführerisches Objekt für kinematografische Überfälle.“
Auch das Weitere passt. Im Film sprechen Forschungsreisende mit Grimm von ihrer Krim-Expedition, „als handle es sich um die Erforschung von Tibets tiefstem Inneren“.
Russische Randvölker
Der Filmtitel lässt sich heute nicht mehr in Erfahrung bringen. Offenbar rezensierte Mandelstam eine Pseudodokumentation mit sowjetsozialistischem Moritatencharakter. Der Kritiker machte dem Regisseur eine unrealistische Darstellung zum Vorwurf. Tatarische Gauchos legen den Kreispolizeichef mit einem Lasso an die Leine und verschleppen ihn in die malerischste Prärie. Es ergibt sich die Entwaffnung bewaffneter Reiter:innen unter den Vorzeichen eines Kinderspiels.
„All das wird ungestraft dem … sanftesten aller (russischen) Randvölker … angedichtet.“
Man beachte Mandelstams imperiale Perspektive. Der Erzähler im Film steigt in eine Höhle auf der Krim, wo Veteranen einer tatarischen Revolution ihr rustikales Arsenal präsentieren.
Die greisen Kämpen sind in ihrer pittoresken Isolation verwildert.
„Mit dieser Pistole habe ich noch gegen die Polizeitruppe des Khans gekämpft.“
Aus der Ankündigung
Welche Folgen hat Russlands Angriff in den kommenden Jahrzehnten für den Westen und die Welt? Dieses hochaktuelle, dringende Buch gibt Antworten auf entscheidende Fragen unserer Zeit.
In seinem neuen Buch gibt der renommierte Historiker und Ost-Europa-Experte Serhii Plokhy Antworten darauf, wie Russlands Krieg die Weltordnung der nächsten Jahrzehnte verändern wird. Er erzählt von einem ukrainischen Volk, das als Frontstaat im jetzt anbrechenden neuen Kalten Krieg endlich seine Identität gefunden hat. Und er skizziert eine globale Außenpolitik, die sich wieder weg von ökonomischer Kooperation, hin zu Dominanz, Vasallenstaaten und militärischer Stärke entwickelt – mit gravierenden Folgen für uns alle. Nur wenn der Westen sich dieser Realität stellt, wird er in Zukunft seine Freiheit behaupten können.
Zum Autor
Serhii Plokhy ist Professor für ukrainische Geschichte in Harvard und Direktor des ukrainischen Forschungsinstituts der Universität. Plokhy ist Autor zahlreicher Bücher zur osteuropäischen Geschichte, darunter das preisgekrönte Werk "The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union", für das er den Lionel-Gelber-Preis erhielt, und "Chernobyl. History of a Tragedy", das mit dem Baillie-Gifford-Preis ausgezeichnet wurde.