Was zuvor geschah - Nicht gleich am ersten Abend
Der Westberliner Chemielaborant (und IM des Berliner Verfassungsschutzes) Tillmann Eisenstein lernt 1984 auf dem Weg zur Leipziger Messe die im Modeinstitut der DDR beschäftigte, aus der DDR-Hauptstadt gebürtige Designerin Arina Nikola kennen. Die beiden verabreden sich für den nächsten Abend im Mitropa-Restaurant des Leipziger Hauptbahnhofs. Da bestätigen sie sich den ersten Eindruck. Die Chemie stimmt. Arina und Tillmann fliegen aufeinander. Obwohl beide von Haus aus nicht fackeln, beschließen sie einen vierundzwanzigstündigen Sex-Aufschub. Dann wird es umso schöner, versprechen sich die Entbrannten.
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In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick
Traditionelle Reihenfolge
In den „Köstritzer Stuben“ hat meine Firma für die Dauer der Messe ständig einen Tisch reserviert. Die Restaurantleiterin kriegt regelmäßig etwas zugesteckt, kleine Geschenke erhalten die Wertschätzung und verbessern den Service. In den „Stuben“ kann man es bis zum Morgengrauen krachen lassen. Es gibt eine Bar mit Tanzfläche. Die traditionelle Reihenfolge steht fest: essen, trinken, tanzen. Dann sehen die Paare weiter.
Erotischer Magnetismus
Ich belege den reservierten Tisch vor der vereinbarten Stunde und gehöre deshalb zum Publikum, als Arina herein schwebt. Die Blicke folgen ihr und bleiben haften. Arinas erotischer Magnetismus wirkt wie ein Aufmerksamkeitsstaubsauger. Arina scheint dazu verdammt zu sein, angesehen und bewundert zu werden.
Sie trägt DDR-Prêt-à-porter, um nicht den Rahmen zu sprengen. Das wispert sie mir ins Ohr. Ich stehe im Zentrum ihrer Gunst. Ich spüre allgemeine Anerkennung. Mit mir muss mächtig was los sein, wenn diese Frau sich mir so zuwendet.
Wir essen gut und unterhalten uns noch besser. Die Umgebung passt zu Arina, ich ahne, dass sie es ungern darunter macht. Ambiente ist wichtig. Für mich ist das auch eine Lehrstunde zum Thema Status im Sozialismus. Die „Stuben“ präsentieren sich im Frontbereich als konservatives Weinlokal. Dies zeigen schwarzschwere Vorhänge theatralisch wallend an.
Der Ruf des Restaurants zieht über Leipzig hinaus Gäste. DDR-Bürger:innen bemühen sich oft vergeblich um Plätze. Die Preise sind gepfeffert. Das kratzt mich nicht. Ich zahle mit Ostmark und rechne mit meiner Firma 1:1 ab. Arina bietet mir beiläufig ein kleines Devisengeschäft an, fünf Ost- für eine Westmark. Sogar ihre Geschäftstüchtigkeit macht mich an. Diese Mischung aus schnucklig und smart mit einem Touch Out-of-Bed lässt sich nicht toppen.
Wir wechseln in die Bar und gehen fast ungebremst auf Tuchfühlung. Die Konstellation entspricht vor Ort der Standardvariante. Das gehört zur Messeroutine. Besucher aus dem kapitalistischen Ausland nutzen die Gunst der Stunde in der Gesellschaft von DDR-Bürgerinnen.
Nach zwei Stunden am Tresen sagt Arina: „Komm, wir machen es uns schön.“
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Auch Barbara bricht alle Rekorde. Arinas Messewirtin ist Mannequin. Das entspricht der offiziellen Berufsbezeichnung in der DDR. Aufnahmen von ihr erscheinen regelmäßig in der Sybille, einer Zeitschrift für Mode und Kultur, herausgegeben vom Modeinstitut Berlin und benannt nach ihrer Gründerin Sybille Gerstner. Barbara stammt aus Limbach-Oberfrohna. Muldensächsisch sagen manche zu ihrem Dialekt. Der Running Gag des Abends: Barbara möchte sofort mit mir nach Amerika aufbrechen. Amerika ist ein Ort, ich weiß nicht, ob Dorf oder Kleinstadt, in der Gegend von Karl- Marx-Stadt. Kein Zweifel, Barbara flirtet mit mir, während Arina sich die Zähne putzt. Dazu bald mehr.