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2023-05-31 11:26:12, Jamal

Abgrundszenarien des Kalten Krieges

Irgendwann in den späten 1970er Jahren. In Leipzig war Herbstkleinmesse. Ich erinnere einen zum Bersten gutgelaunten Zweimeterbrocken in seinem Wurstwagen. Eine Kumpel-Riege belagerte die ambulante Bude. Alle waren aufgekratzt. Sie ließen mich erstmal nicht weiterziehen. Überwiegend heiter zogen sie den dahergelaufenen Westbürger auf. Sie verglichen ihre Errungenschaften mit Versionen aus dem kapitalistischen Ausland. In der westlichen Warenwelt kannten sie sich besser aus als ich. Ich wusste, dass manche Bürger:innen der Deutschen Demokratischen Republik ihre Wohnzimmerwände mit Westkatalogausrissen schmückten. Das andere Deutschland gefiel mir mit seiner Schwarzweißfernseher-Atmosphäre, während auf der westlichen Mauerseite Lew Kopelew und Alexander Solschenizyn den Abgrundszenarien des Kalten Krieges traumhafte Bilder aus einer ewigen Winterwelt lieferten.

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Gut sortierte Hausbar - Was zuvor geschah

Der Westberliner Chemielaborant (und IM des Berliner Verfassungsschutzes) Tillmann Eisenstein lernt 1984 auf dem Weg zur Leipziger Messe die im Modeinstitut der DDR beschäftigte, aus der DDR-Hauptstadt gebürtige Designerin Arina Nikola kennen. Die beiden verabreden sich für den nächsten Abend im Mitropa-Restaurant des Leipziger Hauptbahnhofs. Da bestätigen sie sich den ersten Eindruck. Die Chemie stimmt. Arina und Tillmann fliegen aufeinander. In der Wohnung von Arinas Messewirtin Barbara ergänzen sie ihren Ostwest-Gedankenaustausch mit den Argumenten der Körper. Arina scheint es nicht zu stören, dass sich Barbara, ein vielbeschäftigtes Fotomodell, bei der ersten Gelegenheit einschaltet. Barbaras Spirituosenbestände sind sensationell. Tillmann registriert Magnum-Formate - Wein, Sekt und Whisky in 2.5 l Flaschen.  

Um 1990 auf der Charlottenburger ‚Ranch‘ der Berlin Rangers. Schon damals erwarteten die Auguren stündlich den Einmarsch russischer Verbände © Jamal Tuschick

Romeo in einer Spielart des Westens – So geht es weiter

In der Connewitzer „Tilla-Bar“ bestellen wir dreistöckige Cocktails. Von wegen Mangelwirtschaft. Barbara wartet mit einer zweistöckigen Geschichte auf. Sie erzählt von einem „großen Kaliber“. Barbara deutet an, worauf sich „Kaliber“ nicht bezieht. Sie zwinkert mir zu. Wie possierlich ist das denn. Das Kaliber will dabei gewesen sein, als der bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß und der potenteste Devisenbeschaffer der DDR, Alexander Schalck-Golodkowski, einen Milliardenkredit für die DDR auf dem Gelände eines Schlachters in Westdeutschland einfädelten. Das sozialistische Deutschland droht an seinen Auslandsschulden zugrunde zu gehen. Ich würde es ihm gönnen, der Kredit war überlebenswichtig. Barbaras Bekannter behauptete, Strauß habe sich seinen Einsatz bezahlen lassen, das heißt, er sei bestochen worden. 

Denunziationen gehören zur hybriden Kriegsführung. Im Ostblock sind Zersetzung, De-Stabilisierung und De-Legitimation, um erst einmal drei Stichworte in Umlauf zu bringen, Unterrichtsgegenstände in den Kaderschmieden.

Auch ich bin durch die Schule des Kalten Krieges gegangen. Korruption regt mich nicht auf. Es gibt Weißgott-Schlimmeres. Barbara und Arina geben mir das Gefühl, im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu stehen. Schließlich halte ich beide im Arm.  

Drei Tage später hat mich der Westberliner Alltag wieder. Ich bin erst einmal mit der Messenachbereitung beschäftigt. Nach Leipzig fällt immer viel Schreibkram an. Barbara lässt mich wissen, wie sehr ich ihr fehle, während ich mich über Arinas Schweigen wundere. Meine Einfalt sucht Orientierung. Ich vermute in meiner Beziehung zu Arina mehr Tiefe. Doch sobald ich die Vermutung prüfe, weiche ich vor jeder Vertiefung zurück.

Dass Arina telefonisch nicht nachfasst und sich vergewissert, lässt mich rasch aufhören zu grübeln.   

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Ich habe Termine bei einem Außenhandelsbetrieb. Auf dem Rückweg überquere ich die Grenze auf der Heinrich-Heine-Straße. An diesem Übergang wurde nach einem Durchbruchsversuch 1962 eine Slalomsperre errichtet, an der drei Jahre später zwei Paare in einem Auto scheiterten. In jedem Fall gab es Tote. In ungewohnt nachdenklicher Verfassung beschließe ich einen Experten zu konsultieren. Ich erwarte, dass der Staatsschützer Jörg Reichelt meinen Verdacht zerstreut oder einfach nur abwinkt. Doch mein Freund seit Schul-, Kraftsport- und Berlin-Rangers-Zeiten ist alarmiert. Kurz darauf erhalte ich die Order, Kontakt zu Arina aufzunehmen, und auch Barbara nicht zu vernachlässigen.

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Ich melde mich telefonisch bei Arina. Ohne Auftrag hätte ich mir das geschenkt. Arina tut erfreut, gibt sich aber keine Mühe, die Kommunikationslücke zu überfloskeln. Friss Vogel oder stirb. Ich lade mich ein. Arina sagt nicht nein. Ich tanze an, sie will uns etwas zu essen machen. Ich lehne dankend ab. Für sie das Stichwort, zur Sache zu kommen. Ich werde ins Schlafzimmer gezogen, das ist ein gestreckter Raum mit einem Fenster zur Straße. Eine Jalousie gliedert den Lichteinfall effektvoll, das Spiel von Licht und Schatten scheint einer Inszenierungsanweisung zu gehorchen. Ein Moment der Irritation ergibt sich, als ich aus den Augenwinkeln eine Person am Fenster bemerke.  

Nichts passt zusammen, doch fügt sich alles. Ich bin hingerissen von Arinas unbefangener Art. Außer Frage steht, dass sie stets die Wahl hat. Ich ordne mich im oberen Mittelfeld auf ihrer Liebhaberskala ein.

Nun telefonieren wir beinah täglich, Arina ist wie ausgewechselt. Wir sehen uns oft. Ich habe ständig in der DDR zu tun. Deshalb besitze ich ein Dauervisum.

Drei Monate nach der Wiederaufnahme unserer privaten Ostwestbeziehungen treffe ich Barbara bei Arina. Wir fahren zum Müggelsee, kehren ein und gehen später spazieren. Aus heiterem Himmel behauptet Barbara, sie könne gefälschte Einreisestempel in Ungarn besorgen. Sie brauche lediglich einen echten westdeutschen Pass, um ihn in Ungarn manipulieren zu lassen.

Ich sage nichts dazu. Die Frauen verständigen sich mit einem Blick. Den Vorstoß verkapseln sie in harmlosen Bemerkungen. Sie spielen sich die Bälle zu. Ihre Kaltblütigkeit erregt mich. Ich war noch keine zehn, als ich meine ersten Klassenkampflektionen erhielt. Ich bin Experte und süchtig nach Momenten zwischen Rausch und Gefahr.