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2023-06-01 09:36:13, Jamal

Wenn sich politische Energien nur noch in menschlichen Beziehungen entladen, dann ist eine Gesellschaft, eine Geschichte, eine Politik am Ende. Heiner Müller (dem Sinn nach)

Athletisches Mannequin - Was zuvor geschah

Der Westberliner Chemielaborant (und IM des Berliner Verfassungsschutzes) Tillmann Eisenstein lernt 1984 auf dem Weg zur Leipziger Messe die im Modeinstitut der DDR beschäftigte, aus der DDR-Hauptstadt gebürtige Designerin Arina Nikola kennen. Die beiden verabreden sich für den nächsten Abend im Mitropa-Restaurant des Leipziger Hauptbahnhofs. Da bestätigen sie sich den ersten Eindruck. Die Chemie stimmt. Arina und Tillmann fliegen aufeinander. Zum ersten Mal intim werden sie in der mondänen Wohnung von Arinas Messewirtin Barbara Frühauf. Bald ist Barbara involviert.

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© Jamal Tuschick

Anspruchsvolle Erotik - So geht es weiter  

Sie verkörpert die Idealbesetzung für das Genre Nackt in der Dünenmulde aka Die schöne Wellenbrecherin. Das athletische Mannequin kann sich vor Aufträgen aus dem Themenpark der anspruchsvollen Erotik nicht retten. Die Wohnungswände sind mit einschlägigen Fotostrecken tapeziert. Da sieht man realsozialistische Romantik in Baltic Blue. Das Interieur entspricht höchstem DDR-Standard. Es gibt eine Sammlung origineller Aschenbecher und eine verspiegelte Hausbar mit dekorativ präsentierten Magnum-Formaten - Wein, Sekt und Whisky in 2.5 l Flaschen.

Wenn mich meine Nase nicht trügt, dann bin ich in ein klandestines Liebesnest auf Politbüroniveau geraten. Ein Refugium für die erste Garnitur. Obwohl sie zweifelsfrei auf mich abfährt, zeigt Arina nicht nur keine Eifersucht. Sie überlässt Barbara auch jederzeit die Initiative. Ich wittere eine Hierarchie und eine Routine, für die ich schlankweg keine Erklärung habe.

Barbara erwähnt Günter Asbeck. Sie nennt ihn Schalck-Golodkowskis abgeschmacktesten Groschenjungen. Bis zu seiner Republikflucht vor drei Jahren leitete Asbeck die von ihm im Auftrag der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) gegründete Asimex. Die Firma der „Firma“ stattet das Luxussegment der Intershops und Interhotels aus und versorgt Politbüromitglieder mit westlichen Spitzenprodukten. Asbeck war der erste Eventmanager der DDR. Reich machten ihn Schmiergelder von Westkonzernen, die in das DDR-Geschäft drängten. Die HVA ließ Asbeck gewähren. Von Asbeck erfuhr der BND, dass die DDR mit 26 Milliarden DM im Westen verschuldet ist. 

Asbeck ist der informativste Überläufer seit dem Mauerbau. Er kam als Vorhut. Asbeck brachte ein Vermögen mit, so wie die Botschaft, dass sein Chef ihm folgen würde, sollte die Bundesrepublik einen gewissen Standard garantieren. Dazu konnte sich der Westen nicht entschließen. Deshalb ist der größte Devisenbeschaffer der DDR, Schalck-Golodkowski, noch Chef des geheimen Bereichs für Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Außenhandel.

Wochen später  

Wir wollen zu Barbara nach Leipzig. Ich packe Arinas Reisetasche in den Kofferraum meines Mustangs. Plötzlich steht ein Mann neben mir. Er nennt mich Herr Walter, wie kommt er auf diesen Namen? Gewunden stellt er mich zur Rede. Ich spüre seine Unsicherheit. Arina kommt dazu. Sie kanzelt den Mann nicht besonders energisch ab und empfiehlt ihm fast freundlich, zu verschwinden.

Auf der Fahrt frage ich nach. Arinas Antwort öffnet eine Tür. Der Ominöse heißt Roland Krüger und ist ein westdeutscher Geschäftsmann, der Arina heiraten und aus der DDR herausholen will.

Arina vermeidet schonende Formulierungen. Zu Beschönigungen neigt sie nicht. Im Gegensatz zu mir habe Krüger in der DDR beruflich nichts zu verlieren. Er könne es sich leisten, in Ostdeutschland als Persona non grata zu gelten, während mir eine Stigmatisierung das Genick brechen würde. Ich wäre dann nur ein Arbeitsloser mehr in der Bundesrepublik. Ausgeschlossen, dass Arina mit einem Arbeitslosen ihr Leben gestaltet. Andererseits war von einem gemeinsamen Leben im kapitalistischen Ausland noch gar nicht die Rede.

Was ich schon weiß, wenn auch nicht von Arina: dass ihr Ex-Mann hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ist. Zurzeit spioniert er eine Fluchthilfeorganisation in Polen aus. Der Verein betreibt First Class-Fluchthilfe für hochrangige Bürger:innen der Deutschen Demokratischen Republik. Was es alles gibt.

Im Terminus technicus des MfS folgt die Kur, die ich gerade genieße, „frauenspezifischen Methoden“. Im Gegenzug gebe ich den West-Romeo. Ich bin ein Kind des Kalten Krieges. Während andere in ihrem K-Garten mit Popeln schnickten, besuchte ich die von Colonel Aaron Bank gegründete Hit & Run-Vorschule in Berlin-Charlottenburg. Mein einzigartiges Talent ist früh gesehen und gründlich gefördert worden.

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Im Auftrag des Berliner Verfassungsschutzes fahre ich nach Ungarn; ab Prag gemeinsam mit Arina. Sie ist in die Tschechoslowakei geflogen, da wir nicht zusammen über eine DDR-Grenze gekommen wären.

Wir sind schon ein eingespieltes Paar. Am Plattensee landen wir in einem Hotel voller DDR-Bürger:innen. Arinas Landsleute sind in Ungarn Tourist:innen zweiter Klasse. Alles lechzt nach der D-Mark.

Arina steht überall im Mittelpunkt.