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2023-06-02 10:55:27, Jamal

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„Er war kein tüchtiger Mensch.“
Das sagt Heiner Müller über seinen Großvater. Für den sächsischen Schuster hatte alles sein Gutes.

„Gezwungen, trockenes Brot zu essen, lernte man es zu schätzen.“

Ein Leben lang duckt er sich weg, doch als es ans Sterben geht, verliert er die Geduld und will sein Brot mit Butter streichen. Seine Frau wähnt ihn ob der Hoffart schon auf der Schwelle zur Hölle, der Teufel ist für sie so real wie jede Herrschaft in ihrer leiblichen Gestalt. Müller erzählt die Geschichte des im vorletzten Hemd jähzornig werdenden Großvaters wie man ein Eselsohr in eine interessante Seite knickt. Ihn interessiert der Prozess: die Strecke vom Dulden zur Unduldsamkeit. 

Erfahrung interessiert Müller mehr als Erkenntnis. Er variiert das Genre des verspäteten (zu späten) Aufstands, indem er über Goya sagt, Goya sei „zum Angriff auf die Wirklichkeit übergegangen“ als er schon taub war und fürchtete, außerdem blind zu werden. Goya habe die Französische Revolution begrüßt, sie sich gewünscht in seinem reaktionären Spanien als einheimisches Ereignis. Dann kommt die Aufklärung „mit dem ganzen Terror einer Besatzungsarmee“. Die Bauern bilden die erste Guerilla für ihre bedrohten Unterdrücker. … In dieser Zerreißsituation entsteht bei Goya … der gebrochene Strich.“

Der Vater wird von den Nazis geächtet und gerät auch im neuen Deutschland unter Verdacht. 1951 setzt er sich nach Westdeutschland ab, der Sohn nutzt die Gunst der Stunde und zieht eine Frau ins Bett des Vaters, die den Vater als Funktionär immer noch in Funktion wähnt. Warum er bleibt, und die Familie ziehen lässt: das erzählt Heiner Müller immer wieder anders. Den Qualm in ihm gibt er als Rauch aus.

© Jamal Tuschick

Verschwiegener Extremismus

Auf dem Weg zur Leipziger Messe lernt der Westberliner Chemielaborant (und IM des Berliner Verfassungsschutzes) Tillmann Eisenstein 1984 die im Modeinstitut der DDR beschäftigte Designerin Arina Nikola kennen. Die beiden verabreden sich für den nächsten Abend im Mitropa-Restaurant des Leipziger Hauptbahnhofs. Da bestätigen sie sich den ersten Eindruck. Die Chemie stimmt. Arina und Tillmann fliegen aufeinander. Zum ersten Mal intim werden sie in der mondänen Wohnung von Arinas Messewirtin Barbara Frühauf. Bald ist Barbara involviert.

Aus beruflichen Gründen hat Tillmann ein DDR-Dauervisum. Ein ungehemmtes Liebesleben sorgt dafür, dass zur Frühjahrsmesse 1985 die Beziehung zu Arina auf Normaltemperatur abgekühlt ist.

Arina und ich fahren in meinem Wagen nach Leipzig. Ich lasse Arina vor Barbaras Haustür aussteigen. Für heute bin ich bei Arina abgemeldet.

Meine Zimmerwirtin kellnert im „Römerhof“. Während der Messezeit wohnt Sonja bei einer Freundin. Sie überlässt mir für dreißig Ostmark pro Übernachtung - gutes Geld nach ihren Maßstäben - ihre Einraumwohnung im vierten Stock einer Platte hinter dem Hauptbahnhof. Dusche, Miniküchenzeile, Schrankwand. Eine Couch zum Ausziehen.

Unter der Hand weitergegebene Privatadressen in Sonjas Preis- und Qualitätslage sind begehrt. Hat man einen Kontakt, bemüht man sich bis zu Bestechung, ihn zu halten. Für Hotelzimmer werden astronomische Preise verlangt. Eine Alternative dazu bieten Zimmervermittlungen. In Leipzig gibt es zwei. Bloß weiß man da nie, was man kriegt. Vielleicht was mit Klo-halbe-Treppe und ohne Bad.

Ich habe auch schon in staatlich vermittelten Buden gehaust. Oft musste ich durchs Wohnzimmer der Wirte. Eine verheiratete Gastgeberin erwischte ich mit ihrem Liebhaber. Das war mir zu heiß, ich wollte in keinen Ehekrieg geraten.

Sonja sachliche Art liegt mir. Im „Römerhof“ herrscht sie als Trinkgeldkönigin über ihre Tische.

Unser Arrangement bewährt sich seit drei Jahren, nie habe ich auch nur eine Schublade in Sonjas Sphäre aufgezogen oder mir etwas zu essen gemacht, wozu man nicht nur den Kühlschrank öffnen musste.

Poliertes Resopal, soweit das Auge reicht. Sonja freut sich über die Geschenke, wir wechseln ein paar unverfängliche Worte. Ich bin stets darauf bedacht, in kein Fettnäpfchen zu treten. Die meisten Missverständnisse im deutsch-deutschen Dialog verschärfen sich, wenn man erst einmal angefangen hat, einer dummen Bemerkung abschwächende Erklärungen folgen zu lassen.

Wir kommen zum Geschäftlichen. Ich zahle im Voraus und tausche auch noch Geld für den Privatverbrauch. So umgehen alle Bundesbürger:innen das 1:1 in den amtlichen Umtauschstellen, obwohl privater Umtausch ein Devisenvergehen darstellt. Ich verhandele nicht so hart wie ich könnte und lasse mich auf einen Wechselkurs von eins zu sechs ein. Eine bundesdeutsche Mark für sieben Ostmark wäre locker drin.

Dann wird es für Sonja Zeit zu gehen. Ich gucke Ostfernsehen, zwei Programme zum Gähnen. 

Mir fällt die Decke auf den Kopf, ich beschließe, meinen Chef zu besuchen. Seine Unterkunft befindet sich nicht weit von der Technischen Messe. Seit Jahr und Tag wohnt Klaus Krug bei einem Ehepaar in seinem Alter, Leute um die fünfzig, die Kinder sind aus dem Haus. Das Haus wurde in den Dreißigerjahren gebaut, als Lebensziel des unteren Mittelstandes.

Klaus zahlt zehn Mark pro Übernachtung, das ist so gut wie geschenkt. Passt aber auch zu dem Sparfuchs. Klaus legt Wert auf Familienanschluss, er hat, was er braucht, einschließlich des gemeinschaftlichen Frühstücks. Seine Gastgeberin steht extra für ihn früher auf. Ihr Wohnzimmer gleicht einem Ausstellungsraum für Zinnsachen aus dem Erzgebirge. Es herrscht im Herbst schon weihnachtliche Stimmung.

Die Leute sind angenehm. Messezeit bedeutet für sie nicht nur zusätzlicher Verdienst, sondern auch Abwechslung. Sie nehmen alles gelassen lächelnd mit. Wir stoßen an, ich mit Wasser. Ich bevorzuge das sächsische Margonwasser. In der DDR kennt jedes Kind die blau etikettierten Flaschen.

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In der DDR kann ich mich darauf verlassen, kontrolliert zu werden. Meines Wissens fahre ich den einzigen Ford Mustang, den es hierzulande zu sehen gibt. Als Fahrer bin ich ein gefragter Mann. Auf ein Taxi warten die Leute im Leipziger Messestrudel mitunter eine Stunde. Dazu bald mehr.