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2023-06-03 12:07:28, Jamal

Vom Wir zum Ich

Der Künstler als junger Heiner Müller versteigt sich in Proletarischer Romantik:

„Hinter den Schloten des Traktorenwerkes geht der Mond auf.“  

Als alter Dramatiker konstatiert HM:

„Ich rauche zu viel / Ich trinke zu viel // Ich sterbe zu langsam“

Das ist der Bitterweg vom Wir zum Ich. Ausgeträumt ist des Kommunarden Traum vom Ich zum Wir. 

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Nachdem Gott die Welt erschaffen hatte, war er urlaubsreif. Er suchte den gelungensten Flecken Erde und fand ihn in Georgien. Als Chruschtschow nach Stalins Tod die Verbrechen einer Epoche öffentlich ansprach, äußerte sich Unmut in der Heimat des Despoten. Die Georgier:innen wollten auf den georgischen „Gott“ Stalin nichts kommen lassen. Es gehörte zu ihrem Stolz, in Stalin einen Landsmann gehabt zu haben, der ein Imperium wie ein tyrannischer Hausherr im Griff halten konnte.

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© Jamal Tuschick

Am Steuer des Planeten

In den 1950er Jahren tarnt sich der Revolutionsromantiker Heiner Müller als Materialist. Er ersetzt Liebe mit Leib, er fürchtet den Vorwurf der Dekadenz. Er übt seine Unterschrift. HM geißelt „eine plebejische Tradition“, macht Brecht Vorwürfe, kritisiert Schiller: „Seine Balladen sind Bildungsballaden, geschrieben von einem Gebildeten, nicht von einem Bildner.“

Eine Notiz spannt „verwaiste Nibelungen“ an die „Steppen Asiens“. HM bringt seinen Großvater mit Lenin zusammen, der eine sucht Pilze, der andere schießt Hasen, man trifft sich im Einvernehmen einer Landschaft. Müller malt Gesichter, er setzt sie den Blättern auf die Ränder, den Mäulern setzt er Schaum vor. Er schreibt: „Wenn die Menschheit sich endlich der Parteidisziplin unterwirft“ - (und die Partei ihren) Platz einnimmt am Steuer des Planeten.“

Die Faust des Westens

Doch da gibt es einen, der will das nicht nur nicht erleben. Der Charlottenburger Chemielaborant Tillmann Eisenstein ist bereit mit der Faust des Westens gegen den russisch-basierten „Tscheka“-Terrorstil des bewaffneten Arms der DDR-Nomenklatura vorzugehen.

„Tscheka“ steht für „Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“. Gegründet wurde dieser Staatssicherheitsdienst 1917.  

From Desperation to Escalation - Was zuvor geschah

Auf dem Weg zur Leipziger Messe lernt der Westberliner Chemielaborant (und Agent des Berliner Staatsschutzes) Tillmann Eisenstein 1984 die im Modeinstitut der DDR beschäftigte Designerin Arina Nikola kennen. Die beiden verabreden sich für den nächsten Abend im Mitropa-Restaurant des Leipziger Hauptbahnhofs. Da bestätigen sie sich den ersten Eindruck. Die Chemie stimmt. Arina und Tillmann fliegen aufeinander. Zum ersten Mal intim werden sie in der mondänen Wohnung von Arinas Messewirtin Barbara Frühauf. Bald ist Barbara involviert.

Aus beruflichen Gründen hat Tillmann ein DDR-Dauervisum. Ein ungehemmtes Liebesleben sorgt dafür, dass zur Leipziger Frühjahrsmesse 1985 die Beziehung zu Arina auf Normaltemperatur abgekühlt ist.

Lahme Regieroutine - So geht es weiter

Offiziell beginnt die Messe mit einem Rundgang des Staatsratsvorsitzenden. Der Aufmarsch folgt einer lahmen Regieroutine - same procedure as every year.

Ein Staatsaktritual mit sozialistischem Klimbim - Klaus Krug, mein Chef, ein gediegener Braunschweiger Kaufmann, und ich müssen deshalb besonders pünktlich auf unserem Posten sein. Anderenfalls kämen wir noch nicht einmal in die Halle. Sie wird abgesperrt, solange die Nomenklatura sich die Ehre gibt. Das dauert eine Stunde, dann beginnt das normale Geschäft.

Honecker interessiert mich nicht. Ich ignoriere den Staatszirkus. Zur Feier des ersten Messetages trage ich eine besonders indezente Krawatte. Ich übergehe sämtliche Empfehlungen der Geschäftsleitung der Rosenqvist & Longwood-Deuterium-AG. Ich bin ein Mann des Berliner Staatsschutzes. Der Chemielaborant in meinem Lebenslauf gehört zur Legende.

Honecker verteilt jede Menge Blech. Reihenweise ausgezeichnet werden „die besten Kollektive“ und „Innovationen“ in volkseigenen Betrieben. Auch Aussteller:innen aus dem kapitalistischen Ausland kommen in den Genuss sozialistischer Ehrungen. Botschafter:innen nehmen die Ehrungen entgegen.

Dann ist der Spuk vorbei. Honecker geht, die Standhilfe kommt. Je hübscher, desto Stasi: zumindest geht so ein Vorurteil. Wir verlassen uns auf bewährte Kräfte. Die Arzthelferin Hanne kommt aus Erfurt. Für die Messe hat sie Für sie ist die Messe der Höhepunkt des Jahres.

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Arina und ich schweifen in unseren Termine aus. Wir müssen uns nicht mehr in jeder freien Minute sehen. Allmählich gerate ich in die Rolle eines Mannes, der Erwartungen genügt, um keine Enttäuschungen zu produzieren.

Arina amüsiert sich prächtig ohne mich. Am zweiten Messeabend kommen wir in Barbaras Wohnung zusammen. Die Gastgeberin zeigt sich mir gegenüber überraschend reserviert. Arina deutet umständlich an, dass sie mich heute ausnahmsweise lieber nicht dabeihätte. Das hatten wir noch nicht. Grußlos verziehe ich mich.

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Tagsüber habe ich an zwei Orten zu tun. Der Rosenqvist & Longwood-Messestand liegt in Halle 1 der Technischen Messe drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Im Dresdner Hof residiert das Chemie-Chapter in einer Koje, die das ganze Jahr nicht abgebaut wird. Die Ausstellungsräume im Dresdner Hof sind außerhalb der Messen geschlossen. Im Erdgeschoss sind die Casino-Lichtspiele, der FDJ-Jugendklub Kalinin und ein Kabarett.

Ich war in Leipzig noch nie im Kino oder in einem Kabarett. Das reizt mich auch in Westberlin nicht. Manchmal gehört eine Konzertkarte zu den Aufmerksamkeiten einer Messe-Geschäftspartnerin (eines Messe-Geschäftspartners). Ich stecke sie stets einer hocherfreuten Hanne zu und lasse mir anderentags in Kurzform berichten, wie das Konzert war. 

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Gestern zeigte sie mir die kalte Schulter. Jetzt begrüßt mich Barbara (als Messebesucherin an meinem Stand) wie einen Geliebten. Ihr Kleid ist am Rücken bis zum Hintern ausgeschnitten. Am Hals wird es von einer Schleife zusammengehalten. Mir bleibt kurz die Spucke weg. Wir verabreden uns für den Abend im „Römerhof“. Mir passt der Termin. Arina möchte wieder solo durchstarten. Von mir aus gern.

Barbara bestellt Rumpsteak. Blutig. Die Wahl des Weines überlässt sie mir. Das Trinken überlasse ich ihr. Ich trinke grundsätzlich nichts zu Messezeiten. Mein Amt als Fahrer vom Dienst würde mich keine abnehmen.

Die Flasche kommt im Kühler auf den Tisch. Beim Aperitif hat Barbara ihre Vorstellungen. Sie diktiert dem Ober die Details der Zubereitung. Der Service ist einwandfrei, das heißt unaufdringlich. Barbara seufzt: „Du lässt hier ein Vermögen.“

Ich winke ab. Ich rechne 1:1 mit der Firma ab. Mich erwartet ein Riesenreibach.

Ich sitze in Barbaras Fluidum so fest wie die Fliege auf Leim.

Barbara lächelt wie die Mona Lisa.

Wir wechseln in den Barbereich. Da gibt es eine glitzernde Tanzfläche. Weststandard. Ich fühle mich in die Siebzigerjahre zurückversetzt. Das Publikum surft auf der Discowelle. In der Standardvariante tanzen Westbürger mit DDR-Bürgerinnen.

Ich erweiterte meine Menschenkenntnisse mit Beobachtungen aus den Augenwinkeln. Ich orientiere mich an Paul D. MacLeans Biostruktur-Analyse. Auf der Grundlage dieser Analyse entwickelte der Anthropologe Rolf-W.-Schirm ein Rot-Grün-Blau-Struktogramm. Die Farben stehen für das Zwischen-, das Stamm- und Großhirn. Stammhirn- oder Grün-Typen betonen das Gefühl und bewähren sich mit ihrer Intuition. Der Rot-Typ strotzt vor Selbstbehauptungswillen. Er rockt nach vorn. Dominanz paart sich mit praktischer Lebensbewältigung. Der Blau-Typ ist ein kühler Rechner und gut in der Abstraktion. Die Anteile mischen sich. Sie bestimmen zu können, gewährt Vorteile im Umgang und sichert den eigenen Auftritt. Barbara identifiziere ich als „Blaugrüne“. Ein berechnendes Wesen verbindet sich mit Einfühlungsvermögen. Dazu bald mehr.