„Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel.“ Heiner Müller
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„Gorki hasste die Armut, während er zweispännig durch Moskau fuhr.“ HM
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„Sprache lehrtest du mich und der Profit, ich kann fluchen.“ Shakespeare
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Im Partykeller 1980 © Jamal Tuschick
Trockengewohnte Ewigkeit
Die Renaissance trennt die Kulturräume, sagt Heiner Müller. Die Neuzeit beginnt mit der Pest, sagt Egon Friedell. Der Hauptzweck der bürgerlichen Gesellschaft ist die Verdrängung des Todes, sagt Walter Benjamin. Das 19. Jahrhundert wohnte „die Ewigkeit trocken, in Räumen, die rein vom Sterben geblieben sind“.
Beatles versus Rolling Stones. Ständig wird Tillmann gefragt und danach beurteilt, welcher Band er mehr Sympathie entgegenbringt. Tillmann offenbart sich unumwunden als Wedernoch-Typ. Er ist der Sohn eines Bauern, der die erste Reise seines Lebens im Treck über die Weichsel auf der Flucht vor der Roten Armee unternahm. Das Ende seiner Sesshaftigkeit kehrte ein Grundverhältnis der Gattung um. Menschheitsgeschichtlich ging der Nomade dem Bauern voran, nun schlich er als Schrumpfform einer Existenz der Geschichte hinterher.
Was zuvor geschah
Auf dem Weg zur Leipziger Messe lernt der Westberliner Chemielaborant (und Agent des Berliner Staatsschutzes) Tillmann Eisenstein 1984 die im Modeinstitut der DDR beschäftigte Designerin Arina Nikola kennen. Die beiden verabreden sich für den nächsten Abend im Mitropa-Restaurant des Leipziger Hauptbahnhofs. Da bestätigen sie sich den ersten Eindruck. Die Chemie stimmt. Arina und Tillmann fliegen aufeinander. Zum ersten Mal intim werden sie in der mondänen Wohnung von Arinas Messewirtin Barbara Frühauf. Bald ist Barbara involviert.
Aus beruflichen Gründen hat Tillmann ein DDR-Dauervisum.
Charismatisches Gespenst - So geht es weiter
Es gibt nicht nur Arina und Barbara. Ich begleite Verena auf eine Erweckungsveranstaltung. Auf der Bühne der Tempelhofer Columbiahalle geht es um Gott als Geschäftsmann, so wie ein Sektenfürst ihn sieht. Ich bin bloß wegen Verena da. Der Guru sieht unter dem Beschuss der Scheinwerfer blass aus. Da schwallt ein charismatisches Gespenst. Ich bin froh, dass ich mein Geld nicht so verdienen muss.
Verena zitiert Kleists Penthesilea - „Staub lieber als ein Weib sein, das nicht reizt!“
Sie stammt aus Leipzig, vor zwei Jahren gelang ihr die Republikflucht. Verena führt mich zu einem brandneuen In-Treff. Wir streiten kurz, ob wir nicht vielleicht schon in Kreuzberg sind und nicht immer noch in Tempelhof. Der Wein wird so kalt serviert, dass die Gläser beschlagen. Verena arbeitet als Einkäuferin für einen Modekonzern. Sie erzählt von einer Kollegin, die ihr Studium mit Striptease finanzierte.
„Findest du das schlimm?“ fragt sie.
„Warum sollte ich? Und du? Findest du Männer übel, die in Striptease-Clubs gehen?“
„Auf keinen Fall. Wer dahin geht, gibt ein Bedürfnis zu. Das macht ihn sympathisch.“
Verena erzählt von einem Menschenhändler, den sie in Dänemark traf. Sie beschreibt ihn als naturwüchsig gedrungenen Trinker. Es habe ihr gefallen, wie er den Stier des Lebens noch bei den Hörnern packen wollte. Verena kolportiert einen Standardscherz des Menschenhändlers, der die phonetische Nähe zwischen Kanada und Knast exploitiert. Mir entgeht die Komik, nicht jedoch Verenas verschwiegener Extremismus, der sich durch jede Verblendung ätzt.
Der menschliche Faktor
Im Schnitt habe ich jeden zweiten Tag in Ostberlin zu tun. Die Abläufe sind starr, es gibt keine Geschäftsessen oder Verabredungen außer Haus. Die Verhandlungen finden stets in denselben, nahezu identisch und fast frostig eingerichteten Gesprächsräumen der Außenhandelsfirmen statt, um der zuhörenden Stasi die Arbeit zu erleichtern. Offenbar werden meine Gesprächspartner vor jeder Sitzung auf Linie getrimmt. Nicht immer sind sie reserviert. Manchmal ergeben sich Lockerungen, wenn das Gespräch die familiären Verhältnisse streift. Es scheint nicht inopportun zu sein, sich über schwierige Kinder oder Probleme mit den Nachbarn auszutauschen. Aber auch der menschliche Faktor unterliegt staatlicher Reglementierung. Über bestimmte Annäherungspunkte kommt man nie hinaus. Für mein ausschweifendes Junggesellendasein gibt es keine Darstellungsmöglichkeit.
Trotzdem ergeben sich im Verlauf der Zeit persönliche Beziehungen. Man kennt schließlich die persönlichen Verhältnisse und Vorlieben seiner Gesprächspartner:innen. Man kommt ihnen entgegen mit kleinen Besorgungen. Selbstverständlich nur im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen. Ab und zu ahne ich ein Bedauern, dass mehr nicht möglich ist. Mein Vorsprung an der Konsumfront ist für die andere Seite die unerreichbare Wurst vor der Nase. Besonders im Gedächtnis bleiben wird mir Herr Karl wegen einer Marotte. Beim Zuhören wickelt er seine Strohlocken um den rechten Zeigefinger. Das sieht bescheuert aus. Es wundert mich, dass ihn davon kein Vorgesetzter abbringt.
Sympathische Egoistin
An Arinas dreißigstem Geburtstag besuche ich sie vormittags in Pankow. In ihrer Gegend finden die besseren Verhältnisse im realsozialistischen Maßstab statt.
Arina hat mich zum Krimsektfrühstück eingeladen. Sie bejubelt mein Geschenk – eine Lammfelljacke, die sie sich so ausführlich gewünscht hat, dass es auf eine Bestellung hinauslief. Sie bedankt sich mit einem langen Kuss. Arina trägt ein Kostüm in Apricot. Es lässt mich an Lady Di (für mich ein Synonym für die als Grande Dame verkleidete Kindergärtnerin) denken. Zur Feier des Tages begeht Arina ihre Räume in Straßenschuhen, die sie vielleicht nur im Haus trägt. Sie repräsentiert mit dem Repertoire einer professionellen Gastgeberin. Das Interieur ist 1-A-DDR-Standard. Die Wohnung wirkt auf mich wie ein heimlicher Ort der Hauptstadtelite. Wie ein Schauplatz der Konspiration.
Arinas daseinsfrohes, unprätentiöses Wesen entzückt mich. Ich entdecke nichts Aufgesetztes. In meinen Augen ist Arina eine sympathische Egoistin. Der Mix aus Intuition, spontaner Großzügigkeit, körperlicher Unverfrorenheit und kaltblütiger Berechnung passt zu meinem Portfolio. Wir können beide mit einer Pistole unter dem Kopfkissen gut schlafen.
Bevor der Trubel losgeht, verziehe ich mich ungeduscht. Ich habe einen guten Tag. Bei jeder Pinkelpause steigt mir Arinas Geruch in die Nase. Das entspricht einer Evaluierung. Zwar kann ich beinah wahllos Sex haben, doch emotionale Klarheit erlange ich erst im post-koitalen Clearing. Olfaktorische Impulse geben die Richtung vor.
Ich glühe nach, rotiere vor Begeisterung.
Abends sehe ich Tom und Ben aus meiner Berlin-Rangers-Brotherhood in einem Biergarten am Wannsee. Wir sind engagierte Transatlantiker; kalte Krieger seit dem Kindergarten. In Milizschmieden mit harmlosen Vereinsnamen wurde uns beigebracht, dass die Sowjetunion einen unerklärten, sprich hybriden Krieg gegen den Westen führt. In jeder linken Bastelgruppe erkennen wir die Signatur des Bösen. Nützliche Idiot:innen betreiben das Geschäft der Destabilisierung unter den Vorzeichen redlicher Absichten.
Meinen wackeren Brüdern schildere ich Arina in den lodernden Farben der Leidenschaft. Minne im 20. Jahrhundert. Ich geize nicht mit Details. Vieles kommt auf den Tisch: Arinas Geltungsbedürfnis, die Neigung, alles an sich zu reißen, ein radikaler Geschäftssinn. Den skrupellosen Materialismus interpretiere ich als Folge einer kargen Kindheit. Ihre Mutter heiratete minderjährig einen Witwer mit vier Kindern. Arina ist das jüngste der folgenden Geschwister. Die Familienverhältnisse waren natürlich bescheiden. Man hauste in einer ausgebauten, nicht winterfesten Laube. Ein milder Vater versuchte die bis zur Gewalttätigkeit harte Mutter auszugleichen. Dazu morgen mehr.