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2023-06-05 12:21:07, Jamal

Always walk the simple path

„Wenn die sozialen Probleme des Menschen gelöst sind, dann beginnt seine Tragödie.“ Ilja Ehrenburg

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„Wenn ein Ethnologe einen Indianerstamm restlos erforscht hat, stirbt der Stamm aus.“ Heiner Müller

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Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.

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Niklas Luhmann beschreibt Vertrauen als „einen Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität“. Tillmann leuchtet die mechanistische Erklärung ein. Er ist ein Freund simpler Lösungen - Simplicity is the ultimate sophistication.

1987 © Jamal Tuschick

Gesellschaftlicher Irrläufer

„(Werner) Gladow verstand es … perfekt, die Teilung Berlins auszunutzen. Ost- und West-Polizei arbeiteten nicht zusammen - nach einem Coup konnten die Täter jeweils über die nächstgelegene Grenze flüchten.“ Rüdiger Strempel am 16.05. 2019 im SPIEGEL, Quelle

Im Jahr der Rosinenbomber dreht der Sohn eines Friedrichshainer Fleischermeisters auf. Vom Kino auf Ideen gebracht, gründet Werner Gladow mit enormer krimineller Energie ein Krawatten-Kartell. Der Alexanderplatz ist schwarz von Schwarzhändlern; der Al Capone vom Alex bringt es zu erheblichem Ansehen in dem Verbreitungsgebiet seiner Ein- und Überfälle. Er hat das Zeug zur Legende. Bis er überzieht. Bei einem Raub schießt Gladow oder ein Komplize auf den Chauffeur. Eduard Alte, 47, erliegt seiner Verletzung Unter den Linden. Nun hat Gladow bei den Berliner:innen keinen Stein mehr im Brett.

„Berlin ist nicht Chicago“

Nach einem Feuergefecht in Friedrichshain, die Mutter lädt nach, wird der kaum Achtzehnjährige von Volkspolizisten überwältigt. Die Deutsche Demokratische Republik vollstreckt in seinem Fall das erste Todesurteil. Das Fallbeil bleibt zweimal in Gladows Nacken stecken. Ein Treppenwitz der Lokalgeschichte: Zur Bande gehörte der Scharfrichter Gustav Völpel.

In seinem Filmdebüt „Engel aus Eisen“ zeigt Thomas Brasch Völpel als gesellschaftlichen Irrläufer, der Anerkennung bei Jugendlichen sucht. Für die Jungen um Gladow (Ulrich Wesselmann) bedeutet ein Führerschein schon Überlegenheit. Völpel zeigt ein stumpfes Gemüt und eine beschädigte Rechtsauffassung. Sein Milieu, Polizei und Justiz, begegnet ihm mit Argwohn. Er ist seinem Wesen nach Spitzel, Zuträger und Hehler. Jedenfalls spielt Hilmar Thate so den Henker. Er spielt Völpel geduckt und lauernd. Fast zum Schluss wird es heißen, Völpel habe die Bande ausspähen wollen in amtlichem Auftrag. Ihm ist das Handbeil lieber ist als die Guillotine. Er exekutiert in der Zeit seines Prozesses, insgesamt exekutiert er achtundvierzig Mal. Seiner eigenen Hinrichtung entgeht er als Denunziant.

Partyaffine Fassade

Ich sehe den Film gemeinsam mit Marion in einem Wilmersdorfer Programmkino. Marion ist verheiratet, das würde sie von einem Verhältnis mit mir nicht abhalten. Ich halte sie und mich zurück. Hinter Marions partyaffiner Fassade lauert das schwarze Tier der Depression. Manchmal tritt ein Rinnsal der Verzweiflung vulkanisch aus.

Marion arbeitet als Check-in-Agentin für Pan Am. Mitarbeiter:innen dieser Airline können im Standby-Modus für kleines Geld um die Welt fliegen. Ein First-Class-Personalticket ab Frankfurt am Main via Los Angeles nach Honolulu kostet unter hundert Mark. Marion hat das Angebot noch nie genutzt. Wie irre ist das denn. In einer Cocktailbar sondiere ich Marions Bereitschaft, mit mir in die Karibik zu hitchhiken. Schon wähne ich mich im pazifischen Luftstrom.

Zwei Monate später kreuzt Marion mit einem Stapel Tickets am Frankfurter Flughafen auf. Wir landen auf Oʻahu, Marion fotografiert mich, wo ich steh und geh. Jede Geste sagt, ich bin wegen dir hier. Du bist mir was schuldig.

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Irgendwo erzählt Joan Didion, wie sie in den 1960er Jahren für überregional kursierende Periodika den Schaum der Gegenwart von brackigen Lachen schöpfte. „Exzentrisch“ pendelte sie zwischen Los Angeles, New York und Oʻahu. Ihre Weltläufigkeit gab Didion das Gefühl, „jederzeit eine neue Version (ihrer) … Geschichte beim Zimmerservice bestellen (zu können)“. Obwohl sie als Journalistin direkten Zugang zu den Bestimmer:innen der Epoche hatte, erlebte sie Volten, Zäsuren und tragische Momente wie Jedefrau als TV-Schocks. Im Royal Hawaiian Hotel* sah sie „Robert Kennedys Beerdigung … und die ersten Berichte über das Massaker von My Lai“.

*“A classic and unforgettable epicurean experience awaits you.” Quelle 

Sie liest noch einmal alles von Orwell in dem Luxusresort am Strand von Waikiki. 

“Waikiki reframes your point of you.” Quelle 

Ein scheidungsbereites Ehepaar in Erwartung einer Sturmflut. Die Konstellation stiftet den Spannungsbogen in Didions persönlichstem Bericht aus dem Bauch des Royal Hawaiian Hotels. „Auf den Inseln“ dokumentiert zunächst Szenen aus dem Summer of Love von 1969. Die „langen lichtdurchlässigen Vorhänge“ wehen im Passatwind. 

„Mein Mann ist hier und meine dreijährige Tochter. Sie ist blond und barfüßig, ein Paradieskind …“. Wegen eines Erdbebens auf den Aleuten darf sie nicht an den Strand.  

Die avisierte Monsterwelle kommt nie in Waikiki an.  

Die ausgebliebene Naturkatastrophe wirft das Paar auf seinen Streit zurück. Das private Unglück nimmt den ganzen Raum ein. Die Konversation wird mühsam.  

Didion schildert sich selbst, als eine von allen Ankern gerissene Zeitgenossin. Pathetisch klärt sie ihr Verhältnis zu einer wüsten Gegenwart. Die Autorin steckt in einer Krise, sie ist „eine vierunddreißigjährige Frau mit langem glattem Haar, einem alten Badeanzug und schlechten Nerven“. 

Ein Jahr später erweitert Didion ihren historischen Horizont auf dem geharkten Sandstreifen, der allein den Hotelgästen vorbehalten bleibt. Man sitzt da außerordentlich manierlich; das öffentliche Strandgeschehen wie ein Schauspiel betrachtend. Unversehens erkennt die Autorin in der Separation einen Funktionskern. Nicht die Exklusivität, sondern die Inklusion ist das Entscheidende.  

„Wer sich hinter dem Seil befindet, wird auf unsere Kinder aufpassen, so wie wir auf ihre aufpassen. Er kennt die Leute, die wir kennen. Er weiß, was Crosby* bedeutet, im Sinn einer Chiffre maximaler Zugehörigkeit.  

*“The tournament now known as the AT&T Pebble Beach Pro-Am started out in Rancho Sante Fe, California when Bing Crosby invited some friends to play golf, enjoy a clambake and a raise a little money for charity.” Quelle 

Die strategischen Verknüpfungen von Reichtum, Luxus und maritimer Idylle zeitigten ihre Höhepunkte vor dem Zweiten Weltkrieg. Die ausgeschlossenen Einheimischen wurden abgespeist, während sich die weiße High Society im Royal von „der Jagd in Südafrika ausruhte“. Den Honolulu-Hype mit all seinem auf Hawaiianisch getrimmten Nippes lesen wir heute als Cultural Appropriation. 

Niklas Luhmann beschreibt Vertrauen als „einen Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität“. Mir leuchtet die mechanistische Erklärung ein. Er ist ein Freund simpler Lösungen - Simplicity is the ultimate sophistication.

Im nachträglichen Jetzt der Niederschrift krame ich Hawaii-Fotos aus einem Karton. Ich betrachte Marion beim Frühstück, im Hintergrund ein gigantisches Buffet. Marion in ihrer Strand-Tunika auf einer Promenade. Marion im Bikini auf dem Hotelbalkon. Dahinter erstreckt sich ein schneeweißer Strand über Kilometer. Die Beweisaufnahme im natürlichen Schwarzweiß einer verdunkelten Nachmittagsszene.

Ich erinnere Empfindungen zwischen Lust und Lieblosigkeit. Ich denke an hohle Überbrückungen peinlicher Momente. An die Verbreitung phantasieloser Lügen in alle Himmelsrichtungen.

Die Ferrari-Mietwagen des Hotels heißen Robin 1,2,3, siehe Magnum.

Marion bestimmt die Koordinaten unserer Beziehung anders als ich. Ihre Vorstöße interpretiere ich als Ankündigungen einer großangelegten Verstimmung.  

Wir kehren in den europäischen Winter zurück. Vorderhand trennen wir uns einvernehmlich nach einer kurzen Verlängerung in einem Odenwälder Wellness-Resort. Dazu bald mehr.