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2023-06-07 09:45:10, Jamal

„Der Zweck macht den Stil … und das Schlimmste, das man machen kann, ist, etwas das keinen Zweck mehr hat, noch zu halten, weil es einmal schön war.“ Bertolt Brecht

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„Das Huhn töten, um die Affen zu warnen.“ Japanische Herrschaftsdevise

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“The only force you safely can use is the power of the opponent.” Texas-Tecumseh Thunderbolt

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„Wahre Freiheit definiert sich über harte Arbeit und Entschlossenheit.“ Ai Weiwei 

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“Great works are performed not by strength but by perseverance.”  Samuel Johnson

© Jamal Tuschick

Titanische Dimension - Was zuvor geschah

“Relaxation is more important than information. Relaxation is the reward for successful adaption.” Das verkündet die Berlin-Rangers-Ausbilderlegende Tecumseh-Texas Thunderbolt. „Das Wesentliche im Universum ist nicht das Organische, sondern die Information“, widerspricht Heiner Müller. Im Weiteren sei „Optimismus nur ein Mangel an Information“. „Information ist Information, weder Materie noch Energie“, erklärt Norbert Wiener. Attraktivität ist der Schlüssel zur Information, glauben Barbara Frühauf und Tillmann Eisenstein.

Sie sind Kinder des Kalten Krieges

Barbara kämpft für ihr sozialistisches Ideal auch mit „frauenspezifischen Methoden“ als Kundschafterin des Friedens. Tillmann dient via Berliner Staatsschutz dem NSA auch als Romeo. Beide qualifizieren sich alljährlich für die Kill-Licence in ihren Vereinen. In den 1980er Jahren begegnen sich Meisterin und Meister (in der Kunst des lautlosen Tötens und des Tantra-Sex, um zwei Beispiele herauszugreifen) im Zenit ihrer Schönheit und ihres Leistungsvermögens. Barbara und Tillmann wissen, dass in ihnen Kräfte wirken, die älter sind als die Menschheit. Dass sie Fleisch gewordenes Universum sind. Sie sind einander dankbar dafür, gemeinsam auf der Höhe ihrer titanischen Dimension das Fest des Lebens feiern zu dürfen.

Tillmann verkörpert den umschwärmten Bruder Leichtfuß in der Rolle eines Chemielaboranten, der für einen Westdeutschen Pharmariesen mit Repräsentant:innen von Außenhandelsfirmen verhandelt. Ein unbeschränktes Visum gewährt ihm unbeschränkte Reisefreiheit in der DDR. Tillmann genießt ein seltenes Privileg. In Schuhen von Armani und Anzügen von Yamamoto spaziert er durch Leipzig und Rostock. Er oszilliert zwischen Terminator und Cyberpunk. Begriffe wie Brain-Machine-Interface pflegt er nonchalant in seine Rede ein. Dass Tillmann so sterblich ist wie du und ich, erschließt sich Barbara nicht einfach so. Die Einsicht steigt wie eine fragile Rauchsäule aus einem entlegenen Tal. Erst nachdem sich ihr Tillmanns Sterblichkeit in einem Traum offenbarte, veranlasst Barbara den notorischen Junggesellen dazu, ihr einen Antrag zu machen. Ihre Verlobung koinzidiert zeitlich mit jenem politischen Wetterleuchten, das dem Niedergang der DDR vorangeht. Neunundachtzig wird geheiratet.

Elf Jahre später - Fader Versuch

In einem Barbara seit ihrer Kindheit vertrauten Zecken- und Mückenparadies namens Darßer Urwald bricht sie ihren Schwur am Saum einer fossilen Uferlinie. Wo vor dreitausend Jahren (bis zu einem Strömungsumschwung) Ostseewellen aufliefen, betrügt Barbara ihren Mann mit dem Uraltfreund Raimund in einer Galerie vom Wind gedrückter Kiefern auf dem Kliff. Sie sieht malerisch gewachsene Buchen, Fichten, Eiben, Lärchen, Douglasien und Erlenbrüche. Das Wasser steht im Unterholz wie in den Everglades.

Auf der Suche nach dem verlorenen Sozialismus

Barbara und Raimund waren auf keiner Montagsdemonstration. Sie beschwören das Glück einer sozialistisch soliden Kindheit. Die eigenen Kinder tun ihnen leid, während Barbara und Raimund an den Stäben ihrer Ehen rütteln und die Stabilität ihrer Verhältnisse strapazieren.

Irgendwo sagt Heiner Müller, sobald der Ethnologie Genüge getan wurde, stirbt der erforschte Stamm aus. Sind Barbara und Raimund nicht bereits Ausgestorbene mit mumifizierten Seelen und nachgerüsteten Laufwerken? Eine Jenseitssensation in der Fotofalle. Ein Informationsstreifen liefert zu jeder Wildkameraaufnahme das Datum und die Uhrzeit.

Raimunds Steckbrief vermerkt vorspringende Schlüsselbeine, einen steinernen Thorax. Brustwolle auf dem Tonnengewölbe. Das Gestockte und Verstockte des Gedrungenen. Barbaras olfaktorische Noten spreizten einst Düfte des Ostens. Wer erinnert sich noch an Rumbo und Venezia?

Die ferientäglich-kollektive Beobachtung des Sonnenuntergangs am Strand. Das baltische Licht. Die besondere Ostseebräune als Markenzeichen. Eine Vergleichsmenagerie vom Reh bis zur Gazelle. Das Siesta-Luxus-Steilwandzelt aus dem Zentralen Warenkontor (ZWK) Möbel/Kulturwaren/Sportartikel.

Raimund ist Barbaras Zeuge seit 1974. Er sah sie heranwachsen und Gestalt annehmen. In den notorisch nackten Ferien erfreute Barbaras grazile Ungezwungenheit die Spießerriege der Väter. Sie regierten die gemütliche Schamlosigkeit, so wie sie regiert wurden. Mit Pepitahut und Schmerbauch beschworen sie eine Gemeinschaft, die von Bedingungen abhing, die den Nachwuchs nichts angingen. Die Väter mussten Zeltscheine besorgen und sich den Platzherrn warmhalten. Sie sorgten sich um jede Verlängerung einer Exklusivität, die man auch als freiwilligen Primitivismus erleben konnte.

Genügsamer Austausch

Ein genügsamer Austausch bestimmte Raimunds Liebesanfang. Der FDJ-Eleve nahm, was sich ihm bot. Es war wie Essen in der Pubertät; ein uferloses Unterfangen. Barbara fühlte sich von Raimunds Begehren nicht angesprochen. Ihre Helden sah sie nur an der Ostsee. Raimund begegnete ihr alle Tage. Sie überging ihn in seiner ewigen Gegenwärtigkeit. Für sie war er einer, der sich zwar nur für Sport interessierte, aber trotzdem nicht anständig Reiten konnte. Ihr Anfang vollzog sich ohne Vorlauf unter den Farnen der Polyamorie. Barbara hatte dem fahrlässigen Treiben abgeschworen. Die altbackenen Begriffe ihrer Gegenwart peppt eine Erinnerungstransfusion. Barbara und Raimund sind Geysire füreinander.

„Nur Schwachköpfe kehren ... von Niederlagen ruhmvoll heim“, schreibt Michel de Montaigne. Als Junge wichste Raimund gern auf Unterholz. Jetzt wünscht er sich die Freiheit des Vierzehnjährigen. Aufs Fahrrad und weg. Dazu bald mehr.