Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.
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„Mein Mann half. Das war und ist sein Ausdruck dafür: Er half. Doch ich wollte keine Hilfe, ich wollte Gleichberechtigung. Ich war die unterteilte moderne Frau, die alles hat, und er half mir dabei. Ehrlich gesagt begann das Hilfskonzept irgendwann mich zu ärgern. Warum konnten wir nicht gleich sein? Warum musste er sich nicht unterteilen? Und worin genau bestand die Hilfe?“ Rachel Cusk
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“There’s only one thing that counts. It’s who lives to write the verdict on the others.” Gore Vidal
© Jamal Tuschick
Tennis in der DDR - Was zuvor geschah
Sie unterhält sich mit Schreibübungen. Sie amüsiert sich. In einer Geschichte, die den Weinberg als Sinnbild eines gelungenen Lebens feiert, und zugleich einen Mann als Feind der Menschen charakterisiert, findet sie das Erfundene allzu wahr. Da sitzt eine im letzten Licht eines Herbstnachmittags und träumt mehr als sie liest. Die Lektüre wächst sich zur Halluzination aus. Die Lesende beginnt eine gleichermaßen transkontinentale und transtemporale Reise. Sie trifft sich selbst wieder in einem Weinberg über der Unstrut. Ein übellauniger Bauer, der das Paradies, in dem er lebt, nicht kapiert, kreuzt den Traumpfad der Zeitreisenden. Da sie eine Tarnkappe trägt, sieht er sie nicht.
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Ausgerechnet beim Tennis, einer Randsportart in der DDR, zieht sich Arina Nikola eine Sehnenentzündung am Innenschenkel zu. In der Physiotherapie verfällt sie einem Kindgreis mit goldenen Händen.
Eine Adduktoren-Tendopathie spielt die hauptamtliche MfS-Mitarbeiterin (mit der Legende einer im Modeinstitut der DDR arbeitenden Designerin) dem Physiotherapeuten (und Yoga-Terminator) Binh in die Arme.
Zur gleichen Zeit dreht Arinas - mit einer DDR-Dauervisum privilegierter - Westberliner Liebhaber und NSA-Agent (mit der Legende eines Chemielaboranten) Tillmann Eisenstein seine Runden jenseits der Mauer. Es ist stets die gleiche Leier auf einer Skala der Variantenarmut. So viel zu Westberlin als Schaufenster der freien Welt.
Biologischer Widerspruch - So geht es weiter
Arina vermisst ihren Westmann kaum. In der DDR-Hauptstadt sucht sie markante Orte für ihre Begegnungen mit Binh. Die beiden klappern touristische Anziehungspunkte ab. In den Verhältnissen der Einheimischen erscheinen die Sehenswürdigkeiten beinah exotischer noch als sie Fremden vorkommen, die auf die Reiseführerhistorie spekulieren.
Arina erlebt sich als Navigatorin auf einer Expedition in das Ungewisse des Eingemachten. Gemeinsam genießen Arina und Binh Überraschungen so wie einen Schauer erregenden Kirchenorgelrausch im Atheismus. Eine Meisterin spielt sich in Form, und die Liebenden gewinnen ein neues Weißt-du-noch. Bald schert sich auch Binh nicht mehr um die geduldigen Schatten hinter Arina.
Binh fällt kein Zacken aus der Krone, wenn Arina ihn an jedem Schalter überholt, um den zahlenden Part zu übernehmen. In ihrer Nähe ist Geld so unvermeidbar wie Kuhscheiße auf dem Weg zur Weide.
Binh bittet Arina, in seiner Gegenwart keine Stiefel und auch keine Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen. Er drängt auf die Verfolgung seiner ästhetischen Leitlinien.
Axel Buether erwähnt in „Die geheimnisvolle Macht der Farben“ die Funktionen von Farben in den sieben Kategorien „Orientierung, Gesundheit, Warnung, Tarnung, Werbung, Status und Verständigung“. In jedem Fall muss das Objekt der Begierde diesen Anforderungen genügen. Wer also einer Person, die rote High Heels für ein probates Mittel zur Wertschöpfung hält, von ganzem Herzen widersprechen möchte, den bestimmt - nach Buether - ein biologisches Misstrauen zum Widerspruch.
Sinnlose Schulterknöpfe - Eine Intervention aus dem Jahr 2023
Eben fällt mir ein, wie ich in meinen Dreißigern als Krankenhauspatient an eine Schwester geriet, die mir ihr Interesse nicht vorenthielt. Eine burschikose Attitüde kontrastierte einen Typus, den ich bei Frauen meiner Generation nicht mehr identifizieren und bei Jüngeren überhaupt nicht entdecken kann. Ich wittere ihn mehr als ich ihn erahne bei jugendlich in Wollpullovern mit wagenradgroßen, vermutlich sinnlosen Schulterknöpfen ergrauten Floristinnen und Buchhändlerinnen. Da verwest ein erotisches Wir.
Die Krankenschwester war dazu bestimmt, mich attraktiv zu finden und von mir attraktiv gefunden zu werden. Heute stoße ich mich am Stereotypen und Seriellen. Es war stets die gleiche Leier auf einer Skala der Variantenarmut. Vorgedrehte Zigaretten in einer originellen Box. Der R4 oder die Ente. Die Kerzen auf dem verwitterten Sims. Das verzogene Fensterkreuz. Dalís zerlaufene Uhren als Poster. An der nächsten Ecke eine Kneipe, in der 1964 Alexis Korner aufgetreten war.
Wir hatten keine Wahl. Damals wurden noch sechswöchige Kuren bewilligt. Der Rekonvaleszent/die Rekonvaleszentin logierte in einem mittelprächtigen Hotel. Ich nahm alle Anwendungen und Muskelaufbaustunden mit. Man drehte ein Video mit mir in der Hauptrolle, weil ich mich so akkurat-gelenkig bewegen konnte. Das war kein Wunder, hatte ich doch nie groß etwas anderes getan, als zu trainieren.
Die Krankenschwester, die mir in ihrer Dienstkleidung angenehm aufgefallen war, kam als Lady in Red zu unserer ersten und einzigen Verabredung. Sie trug einen Lackminirock zur Lackweste, mir brannten die Augen.
Verabredet war eine Antwort auf die Frage, ob ich nach einer schweren Operation, über die wir ein anderes Mal gern reden können, noch zum Geschlechtsverkehr in der Lage sein würde. Darüber hatten die Schwester und ich uns (sie auf jeden Fall entspannter als ich und sowieso ungemein heiter) auf ihrer Station verständigt. Was für eine lustige Idee.
Und nun das. Roter Lack. Denken Sie an Buether. „Orientierung, Gesundheit, Warnung, Tarnung, Werbung, Status und Verständigung.“ Wir machen das alle nicht zum Spaß. Wir wittern, warnen, werben und tarnen nach den Vorgaben unseres genetisch-sozialen Strichcodes.
Nackt war die Welt wieder in Ordnung, doch blieb ein Unbehagen. Dazu bald mehr.