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„Eine militärische Supermacht, die das Leben auf der Erde hätte auslöschen können, verschwand einfach wie das Trugbild eines Illusionisten.“ So erinnern Ivan Krastev und Stephen Holmes in ihrer als „Abrechnung“ deklarierten Analyse „Das Licht, das erlosch“ an das Ende der Sowjetunion.
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Heiner Müller zitiert Lion Feuchtwanger, um sein Interesse an „Zement“ zu begründen:
„Was mich an der Geschichte interessiert, ist das Feuer, nicht die Asche.“
So empfindet Elke Čarnica. Das Nachglühen der DDR und der historische Widerhall des sowjetischen Imperialismus geben der ehemaligen Kundschafterin des Friedens Auftrieb. So passioniert wie routiniert beteiligt sich Elke an der hybriden Kriegsführung ihrer Ostseeseilschaft. Die Chefstrippenzieherin sitzt im Schweriner Landtag.
Elke hält den westlichen Universalismus für camouflierten Partikularismus. Nach ihren geostrategischen Begriffen verschleiert die sogenannte freie Welt ihren Expansionsdrang mit Moralgirlanden.
„Manchmal wenn ich meine Privilegien genieße / Zum Beispiel im Flugzeug Whisky von Frankfurt nach (West) Berlin / Überfällt mich, was die Idioten vom SPIEGEL meine / Wütende Liebe zu meinem Land nennen.“ Heiner Müller
Müller sagt:
„Was im ersten Jahr Provokation ist, ist im zweiten Jahr Repräsentation und im dritten die Erfüllung. Theater lebt von Verspätung“.
Eine Variation:
„Theater ist generell nicht innovativ. Theatertriumphe sind Arbeiten, die nicht wirklich neu sind, erfolgreich ist das alte Neue“.
Informationskrieg funktioniert genauso.
In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick
Vorgetäuschte Republikflucht - Was zuvor geschah
Angst vorm Fliegen erschien Mitte der 1970er Jahre auf Deutsch. Zehn Jahre später löst Erica Jongs Millionensellerdebüt in der aus Ahrenshoop gebürtigen, in Mühlheim am Main gestrandeten, vorgeblich republikflüchtigen Zootechnikerin Elke Č. ähnliche Empfindungen aus wie Geschichten in Westillustrierten über Reiche auf Sylt, Marianne Bachmeiers Rache, die New Yorker Mafia und Uschi Obermaiers breit diskutierte Liebe zu Dieter Bockhorn.
In der südhessischen Idylle angelt sich die Kundschafterin des Friedens den von Grund auf harmlosen, bodenständig-soliden Einar Ehrentraut. Der dreißigjährige Einzelhandelskaufmann ist bei seinen Eltern nie ausgezogen. Mit „frauenspezifischen Methoden“ treibt Elke Einar in die Hörigkeit. Sie haut seine Steifftiermenagerie in die Tonne und bemächtigt sich seiner Plattensammlung. Auf Geheimdienstdschungelpfaden lässt sie die LPs nach Ostberlin schaffen. 1989 trennt sich Elke von Einar. Knall auf Fall heiratet sie ihren Führungsoffizier Wotan ‚Stalin‘ Freiling. Das Paar lebt zunächst in Berlin. 2000 lässt es sich an der baltischen Riviera nieder. Das Tscheka*-Tandem zieht in Elkes Großelternhaus ein. Zu dem sagenhaften Skipperhus bald mehr.
*Zuchtmeisterin der Stasi war das NKGB. Das Institut der engagierten Rechtspflege nahm Maß am ersten sowjetischen Geheimdienst. Die deutschen Verbündeten wurden mit dem „Tscheka“-Terrorstil vertraut gemacht. „Tscheka“ steht für „Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“. Gegründet wurde dieser Staatssicherheitsdienst 1917.
Elke und Stalin steigen in das von Ex-MfS- und Stasi-Leuten kontrollierte Immobiliengeschäft ein. Die Freilings verdienen sich goldene Nasen. 2012 ertrinkt Wotan F. nahe dem Nordwestufer des Saaler Boddens. Zumindest ist Ertrinken die offizielle Todesursache. Ein halbes Jahr später zieht Einar bei Elke ein. Seither bilden die beiden eine Wohngemeinschaft, in der Elke zwar den Ton angibt, Einar aber auf seinen Kosten kommt.
Aufgegebener Lieblingsplatz - So geht es weiter
Flache Wellen treiben gegen das Reet. Der Bodden schimmert smaragdgrün unter seinen Schaumkämmen. Nilgänse weiden einen Anger von Joachim Havemann ab. Die Ägypter:innen kamen im 18. Jahrhundert als Ziergeflügel nach Europa. Vereinzelt fanden sie Zugang zur Freiheit, ohne da große Populationen zu bilden. Erst seit fünfzig Jahren vermehren sie sich wie nach einem Startschuss.
Boomer-Rendite
Herausfordernd gerade hält sich Einar auf seinem handgefertigten Fahrrad. Handgefertigt nach Ideen eines Genies seines Fachs in einer Münsteraner Manufaktur. So geht die Legende. Trotzdem versteht seine boddenbaltisch-bodenständige Ex-Gattin nicht, warum der vormals so anspruchslose Einar so viel Umgebung für das beste Fortbewegungsmittel in dieser Gegend braucht. An seiner Stelle hätte sie sich mit einem Kauf beim Zweirad Zeisel in Wustrow ewiges Entgegenkommen und den besten Service weit und breit gesichert.
Tagesausflügler, die jede Wolkenformation zum Beweis ihrer Freizeitspielräume fotografieren, nehmen den Hessen Einar als exemplarische Seebadpersönlichkeit wahr. Kein Mensch wäre passender in der Rolle eines Ahrenshooper Künstlerkolonisten. Bei anderen Gelegenheiten glänzt der im Schreibwarengeschäft seiner Eltern dreißig Jahre lang tätige gebliebene Einar als Babyboomerpensionär mit den Anmutungen eines Flugkapitäns im Ruhestand. Stets das weiße Hemd dezent einen Knopf zu weit offen. Die Breitling Bentley Mark VI im Anschlag. Ja, auch Einar hat geerbt.
Ein angeborener Vorwärtsdrang beflügelt Elke. Sie verlangt sich gern etwas ab. Wer rastet, der rostet. Einar hätte mehr Spaß mit Elke, wäre er wettkampforientierter.
Elke dirigiert Einar zu einem aufgegebenen Lieblingsplatz; an einer vom Schilf schützend eingefassten Bucht mit verrottetem Steg. Nirgendwo liegt die offene Ostsee dem Bodden näher als hier. Nur eine flache Erhebung vereitelt den Überblick.
Der Küstenstrand zieht das Normverbraucher:innenheer in Kolonnen an, während das Boddenufer die Individualist:innen lockt. Elke trifft ihre Badeentscheidungen in Opposition zu den Massenaufläufen der Auswärtigen. Unter sich bleiben die Ahrenshooper:innen trotzdem nicht. Von jeher besetzen binnenländische Camper:innen verschwiegene Endpunkte von Traktorpisten. Liebevoll restaurierte DDR-Wohnwagen, bis hin zum sagenhaften Dübener Ei, verraten intime Kenntnisse örtlicher Gepflogenheiten. Man kannte oft noch den Weiden flechtenden und Reet erntenden Großvater des amtierenden Bauern. Man argumentiert auf einer gewohnheitsrechtlichen Basis. Da sollte sich kein Fremder einfach so dazwischenschalten; er bekäme gleich den same-same-but-different-Bescheid auf Ostdeutsch zugestellt. Was dem sächsischen Jupiter erlaubt ist, das darf ein badischer Ochse noch lange nicht.
Elke zieht sich reflexartig aus. Einar zupft umständlich seine Wäsche vom Leib. Jede Bewegung verrät, wie bewusst ihm sein Alter und wie schwierig für ihn öffentliches Nacktsein ist. Die Scham steht ihm auf der Stirn geschrieben.
Einar entbehrt die mit der Muttermilch eingesogene Freikörperkultur. Wie Elke es vor einem halben Jahrhundert gelernt hat, liefert sie sich sofort und vollständig der Kälte aus. Einar setzt hinter ihr auf allmähliche Gewöhnung.
Elke hat ihre Seniorinnenform gefunden. Sie reüssiert als Grande Dame mit Kurkonzert-Abonnement und als handfest-humorvolle Gartenfreundin. Da steht eine Fünfundfünfzigjährige, so straff und elastisch, dass man mit ihr einen Fit-ab-Fünfzig-Unterichtsfilm drehen könnte.