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2023-06-26 13:56:05, Jamal

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Irgendwo äußert sich Beckett über das Werk eines Kollegen so: „Seine Prämissen sind nicht so schwach wie seine Schlussfolgerungen.“

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„Wir Menschen sind ... kognitiv ... weiter als ... unsere Biologie. Trotzdem spüren wir die Auswirkungen der neurophysiologischen und hormonellen Grundlagen des Fight-or-Flight-Geschehens, denn sie sind in uns veranlagt.“ Bert te Wildt, Timo Schiele, „Burn On: Immer kurz vorm Burn Out. Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft“

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Wir pendeln „zwischen Obsession (Fixierung auf etwas Unangenehmes) und Compulsion (der Versuch, das Unangenehme zu neutralisieren).“  Roland Paulsen, „Die große Angst. Warum wir uns mehr Sorgen machen als je eine Gesellschaft zuvor“

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„Diesen Mittag war ich das erste Mal bei Goethe zu Tisch. Es waren außer ihm nur Frau von Goethe, Fräulein Ulrike und der kleine Walter gegenwärtig, und wir waren also bequem unter uns, Goethe zeigte sich ganz als Familienvater, er legte alle Gerichte vor, tranchierte gebratenes Geflügel, und zwar mit besonderem Geschick, und verfehlte auch nicht, mitunter einzuschenken.“ Johann Peter Eckermann

In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick

Seuchenpolitische Abschottung

In einer seiner letzten Publikationen vergleicht Hans Magnus Enzensberger den Limes mit einer „Membran, die einen osmotischen Austausch zwischen verschiedenen Kulturen und Verkehrsformen beförderte“. Die Römer:innen seien zu klug gewesen, um sich abzuschotten.

Jede Verriegelung erschafft eine Verarmung.

Doch gebe es Lagen, so Enzensberger, in denen ein cordon sanitaire als beste Lösung angesehen werden müsse, etwa bei Territorien, die sich Desperados unter die Nägel zu reißen wussten.

Hans Magnus Enzensberger, „Fallobst. Nur ein Notizbuch“, mit Zeichnungen von Bernd Bexte, Suhrkamp, 15,-

„Statt zerfallene, von Sekten oder Warlords beherrschte Gebiete zu bombardieren oder mit Bodentruppen zurückzuerobern, ließen sie sich mit relativ geringem Aufwand umstellen und mit Waffengewalt isolieren.“

Siehe hierzu Peter Sloterdijk - Nachrichten aus der Grauzone  

„Kein Bürgerkriege-Atlas, kein Lexikon der Defizite vermag das Grauzonen-Reich zu umspannen, keines der üblichen Weltbilder fängt es ein. Historikern der Imperien ist die Neigung gemeinsam, die Existenz und Ausdehnung des Grauzonenhaften zu übersehen … kein Auswärtiges Amt weiß wirklich, was da draußen geschieht, wo die Irregularitäten unter sich sind. Über einhundert staatsartige Halbanarchien unter Flaggen brüten auf dem Planeten in sich selbst ...“   

Skythisches Nichts

Der Diagnostiker HME nennt den Kaukasus vor Somalia. Er spricht ferner vom Kongo und vom Irak. Auch „in Teilen Syriens und Afghanistans“ könne ein Kordon despotische Machenschaften vielleicht unterbinden.

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Grabsteine waren die ersten Grenzmarken. Die Toten einer Familie bewachten die Frontlinie ihres Territoriums. Der Ökonom Francesco Magris zitiert den Philologen Jacob Grimm, der die ursprünglichste Bedeutung von Grenze in Eigentumsregelungen entdeckte. Magris beschreibt eine Parallelbewegung zwischen Staat und Ewigkeit in der Wahrnehmung Ovids. Der Limes trennte den Verbannten vom „skythischen Nichts“. Der römische Grenzbegriff war mit imperialen Machtbegriffen aufgeladen. Ovid erwartete von einer Verschiebung des Limes die Verschiebung des Nichts. Der Limes prägte seine Begriffe von einer Grenze.

Enzensberger beruft sich auf Clemens Brentano. Im Herbst 1817 veröffentlichte Brentano in dem illustrierten Periodikum Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz in feuilletonistischen Fortsetzungen eine Geschichte mit dem umständlichen Titel Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter.

„Die Kunst aber ist die Kanaille, die mich mit diesem sorgenvollen Ehrgeize behängt hat, und die Trägheit ist es, der ich verdanke, daß ich so edel bin.“ Clemens Brentano

„Brentano erzählte ... von einer Pestepidemie in Kroatien. Ein ungarisches Grenadier- und Husarenregiment war damit beauftragt, den Cordon Sanitaire zu sichern. Selbst Briefe konnten den Pestkordon nicht passieren …“

Feuilletonistische Fortsetzungen

Wir begegnen dem fahrenden Maler Wehmüller auf dem Weg zu seiner Frau, die ihn in der alten ungarischen Krönungsstadt Stuhlweißenburg, heute Székesfehérvár, erwartet.

Ein drängender Brief befördert Wehmüller an den Rand der Selbstbeherrschung. Seine avisierte Reisegeschwindigkeit setzen lauter amtliche Vorkehrungen im Rahmen der Seuchenbekämpfung herab.  

Ich erzähle das jetzt nicht weiter. Ich habe mich nämlich verlaufen bei dem Vorhaben, Enzensberger, Brentano, die Pest im frühen 19. Jahrhundert und eine Person zusammenzubringen, auf die Enzensberger als Referenz verzichtet. Ich meine Marcels Vater Adrien Proust, einen vehementen Verfechter der seuchenpolitischen Abschottung.

Adrien Achille Proust (1834 - 1903) war ein unfassbar tüchtiger Mann und insofern das schiere Gegenteil seines Stammhalters, der von den flüchtigsten Erscheinungen des Lebens aufgehalten und förmlich zu Boden gedrückt wurde. Der Epidemiologe versah seine Aufgaben mit leidenschaftlicher Autorität, während sein Erstgeborener von Geburt an kränkelte und in der handfesten Realität nie richtig Fuß fasste. Schon mit knapp dreißig war der Titan Chef der Pariser Charité. In der III. französischen Republik trat er als staatspolitisch ausschlaggebender Mann auf.

1884 avancierte Professor Proust zum Generalinspekteur des französischen Gesundheitswesens. In der Hygiene fand er einen Zivilisationsschlüssel. Seine herkulische Natur versicherte Frankreich gegen manchen Schrecken, der sich im Schatten von Seuchen vorschleicht. Nebenbei verfasste er, angeregt auch von den Zuständen des Sohnes, ein Standardwerk zur Behandlung von Neurastheniker:innen.

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Die koloniale Dynamik der Cholera-Pandemien findet in der Recherche keinen Widerhall.