Im Belmondo fotografierte Brassaï einen russischen Hotelpianisten, der schon als Doppelgänger von Christopher Lee aufgetreten war und im Lokal Hof hielt. Seinem spröden Charme erlagen Frauen und Männer. Sein Spiel unterbrach streitende Paare. Es förderte flüchtige und festigte dauerhafte Bindungen. Der Exilant war eine Instanz. Doch wer ihm zu nah kam, erkannte das Milchige seines Wesens als ein Zeichen seelischer Verwahrlosung. Das Spiel kam nicht aus der Seele. Es war reines Repertoire. Brassaï besaß das Genie, den stets in Schale geworfenen Gaukler sichtbar zu machen. Er markierte ihn ohne Mitleid und Hochmut.
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Um 1990 © Jamal Tuschick
Beleidigend sachlich
Er macht es ihr leicht, so dass sie sich erst gar nicht in die Pflicht genommen sieht, eine Entscheidung zu treffen und eigenmächtig eine Schamgrenze zu überwinden. Schon beim Vorstellungsgespräch ist Caroline Gaulle alles klargeworden. Maître de Lussac, Professor für Strafrecht mit eigener Kanzlei im eigenen Pariser Stadthaus, hätte sie auch eingestellt, wenn sie mit einem Sprachfehler aufgekreuzt wäre.
Caroline genießt ihre Wirkung. Sie registriert jede Nuance im Verhalten ihres Arbeitgebers. Seine Grußformeln bleiben formell und sind in Anbetracht ihres Verhältnisses beleidigend sachlich.
Nach zwei Monaten erfolgt die erste Einladung zum Abendessen. Das Restaurant ist so teuer, dass es Caroline nur vom Vorübergehen kennt. Es ist keines jener Ancien Régime Paläste mit theatralischem Dekor. Maître de Lussac lässt sich in einem futuristischen Glaswürfel im Erdgeschoss einer architektonischen Erscheinung des flamboyanten Jetzt zu kleinen Beweisen der Kennerschaft herab. Caroline überlässt ihm die Wahl.
Caroline stellt sich vor, ihre Phantomfreundin Esther sähe sie mit Maître de Lussac im Restaurant. Maître de Lussac betrachtet sie missbilligend, während die Vorspeisen aufgetragen werden. Caroline zögert. Sie weiß nicht, was von ihr erwartet wird. Sie fürchtet zu versagen. Sie glaubt, ihr Essen nicht verdient zu haben.
Der Küchenchef kommt an den Tisch und buckelt vor Maître de Lussac. Caroline mustert er unverschämt. Sein Blick deklassiert sie.
Nach dem Essen überrascht Maître de Lussac die Angestellte mit einer Verlängerung in dem Hotel, das zum Restaurant gehört. Caroline steht nicht ungern auf dem Balkon mit schmiedeeisernem Rankengeländer. Sie imaginiert sich an die Stelle von Madame de Lussac und fühlt sich im Rang einer Gattin ausreichend wertgeschätzt.
Den nächsten Morgen erlebt sie allein, Maître de Lussac hat sich davongeschlichen. Ein gewaltiges Frühstück mit Champagner gehört wahrscheinlich einfach nur zum Rahmenprogramm.
Caroline trinkt sich einen Schwips an. Sie bespricht mit sich die Arrangements, sie erkennt gewisse Versäumnisse. Ein galanter Liebhaber hätte Blumen aufs Zimmer bringen lassen. In Carolines Phantasie holt er das nach.
An den Leisten sind die Vorhänge zu Schnecken drapiert. Das Muster taucht gemalt auf auch auf den Stofftapeten.
Caroline bleibt sich selbst überlassen so lange im Bett, bis sie die Frage aufschreckt, wann das Zimmer wohl geräumt sein muss. Sie hat keine Idee. Vom Rausch ermutigt, wagt sie einen Anruf. Die Rezeptionistin flötet, grundsätzlich könne Madame nach ihren Wünschen über das Zimmer verfügen, ab elf berechne man lediglich die nächste Nacht. Maître de Lussac teilt ihr per Short Message Service mit, sie habe den Tag zur freien Verfügung. Die Großzügigkeit übersteigt Carolines Fassungsvermögen.
Ihr bleibt noch Zeit für ein Bad, das Leben ist ein Fest.
Katholische Kleinschreibung
Worauf es ankommt. Maître de Lussac kommt es auf Carolines „exotischen Teint“ und auf ihre katholische Kleinschreibung des Lebens an. Dass es ihr auch auf etwas ankommen könnte, hält er für ausgeschlossen. Doch Caroline hat feste Vorstellungen. Sie lässt sich von keinem anfassen, der aussieht wie ein großer Junge. Sie will ein ausgereiftes Modell. Den kleinen Ehrgeiz gibt sie nicht preis.
Caroline weiß sich im Vorteil. Klagende Frauen erträgt sie nicht.
Sie fühlt sich stark genug für die Welt.
Sie wagt den Besuch im Belmondo. Als Kind sah Caroline den missratenen Bruder ihrer Mutter in der Kaschemme einkehren. Seither vermutet sie da einen Schlund und einen Gipfel der Verworfenheit.
Sie stellt sich an die Bar und bestellt einen Pastis. Sie ist schon ziemlich blau, jedenfalls blau genug, um es einen Augenblick für möglich zu halten, ein scheuer Verehrer säße in der dunkelsten Ecke.