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„Orgasmen, die zwanzig Jahre zurückliegen, hinterlassen keine Erinnerung.“ Elisabeth Hardwick
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„Die Mode ist am Ende stärker als die Persönlichkeit: alle Mätressen Ludwigs XV. (dem Verehrer der Marquise de Pompadour) sahen gleich aus.“ John Updike
Um 1980 © Jamal Tuschick
Alter Adel versus neues Geld
Selten war ein Tag heißer. Mir ist, als fingen meine Beine Feuer. Ich treffe Alecia im Brentanopark. Auf den Bänken liegen Leute wie aufgebahrt. Picknickszenen erinnern an heruntergebrannte Feuer; an (von einer Epidemie) geräumte Feldlager unter einem in Flammen stehenden, wie von einem Flamen im 17. Jahrhundert gemalten Himmel.
Wir suchen einen beliebten Schauplatz der Heimlichkeit auf. Wir kennen beide den Platz aus anderen Konstellationen. Alecia macht es sich bequem. Sie datiert das Anthropozän auf den Beginn der kolonialen Ausschlachtung Amerikas.
Mit Amerika hatte Europa nicht gerechnet. Der Kontinent lag einer unhaltbaren Vorstellung von Welt und Handel im Weg. Nachdem klar geworden war, dass Kolumbus nicht in Westindien gestrandet war, wurden alle Kapitäne auf großer Fahrt dazu angehalten, einen Durchgang zum Pazifik zu entdecken.
Zwischen dem Start (Spanien/Portugal) und dem Ziel (den Molukken) war nicht nur viel mehr Wasser, sondern auch viel mehr Land als erwartet. Als Juan Díaz de Solís, erkrankt an Melancholie und Fernweh, 1515 sein Schiff in eine Bucht der südlichen Ostküste Amerikas steuerte, glaubte er die Wasserstraße seines Ruhms erreicht zu haben. „Entdeckt“ hatte er den Río de la Plata: ein Mündungsbecken. Überlebende der Mannschaft nannten die Gegend in ihren Erinnerungen „ungastlich“. Die örtliche Bürgerwehr begrüßte Solís mit Speeren.
Mit dem Stolz des Entdeckers gab Solís dem Fluss seinen Namen: Río de Solís. Kaum aber hatte er den Fuß auf Land gesetzt, fingen Krieger:innen der Charrúas den Unglücklichen. Sie brieten und aßen ihn vor den Augen der in einer Schaluppe in vorläufiger Sicherheit zurückgebliebenen Gefährten. Die enthauptete Flotte machte sich dünn.
Alle wollten dahin, wo der Pfeffer wächst. Königliche Erwartungen richteten sich auf den Seeweg nach Indien. Die Mündung hieß noch Solís-Fluss, als Sebastian Cabot sie zum Ankerplatz bestimmte. Er verbrauchte das Holz von zwei Schiffen für ein Fort. Er erkundete den Uruguay, in der Hoffnung, der Strom flösse vom Atlantik in den Stillen Ozean. Indigene Milizen zwangen Cabot immer wieder in sein Fort. Er revanchierte sich mit Strafexpeditionen am Río Paraná. Er folgte dem Zwilling des Uruguay. In die Gegend von Cara-Cara (heute Río Tercero) etablierte Cabot vorausschauend die nächste Usurpationsstation. Der Festungsbau wirkte magnetisch auf die Bevölkerung. Die Spanier erschienen so exotisch wie Aliens auf einer Lichtung.
Da kommen Blechkameraden in den Wald und bauen erst einmal einen Riesenzaun um ihre Scheißhäuser. Wie verrückt sind die denn.
Alter Adel versus neues Geld. Der Raubritter- und Aufsteigerreichtum der Konquistadoren verschob in Spanien die Gewichte. Sprösslinge großartiger Familien bekamen Konkurrenz von Hinz und Kunz. Nun spielten Söhne von Reinigungskräften mit. Neue Allianzen bot sich an. Des Kaisers sagenhaft wohlhabender Oberschenk Pedro de Mendoza ging eine Geschäftsbeziehung mit dem Abenteurer Cabot ein.
„Sein Gruß kam einer Beförderung gleich.“
Mendoza konnte eine eigene Flotte auf den Grund des Meeres schicken, ohne Pleite zu gehen. Am 24. August 1534 spuckte er zum letzten Mal in das Hafenbecken von Sevilla. Er startete mit vierzehn „stolzen Gallionen“. Mendoza brachte die Blüte seines Landes in die Neue Welt. Mit ihm fuhren zweiunddreißig Mayorazgo - blanker Uradel; nicht einer sollte den Spaß überleben. Ferner transportierte Mendoza zweiundsiebzig Pferde, hundertfünfzig Deutsche und Holländer, dreitausend sozialschwache Spanier:innen und achtzehn iberische Missionare.
Mendoza hatte einen Freibrief. Ihm waren Länder versprochen. Er lebte mit der Aussicht auf eine Prämie für jeden erschlagenen Kaziken.
Ich muss hier abbrechen, um die Kurve zu kriegen. Alecia zählt eine von Mendoza geschwängerte Charrúa zu ihren Ahninnen. Die genealogische Rechnung ist verwickelt.
Alecia und ich unterhalten uns über die vielen Anläufe der Spanier:innen, Portugies:innen und Genues:innen, einen Seeweg nach Indien zu finden. Nach den Begriffen der Zeit war die Wasserstraße im Schöpfungsplan kartografiert. Es konnte gar nicht anders sein. Jedes atlantische Mündungsdelta war ein Tor der pazifischen Verheißung.
Wir reden über Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und Klimakrise. Der Abendhimmel spottet jeder Übertreibung. Eben noch färbt sich der Horizont dramatisch, im nächsten Augenblick leuchten die Sterne so, dass man sich in den Weltraum gezogen fühlt.
Von allen Bildern des Grauens, die Alecia in ihrer Widerstandspoetik zusammenfasst, ist dies das stärkste: In atlantischen Tiefen lässt sich das chemische Echo einer mörderischen Praxis feststellen. Im Zuge millionenfacher Deportationen afrikanischer Sklav:innen fanden unzählige Hochseemorde statt. Das Meer bestattete sie. Der Tod hallt nach in organischen Prozessen.
Als mythische Konstante des ozeanischen Transfers ging das Echo in die Literatur ein. Ich weiß nicht mehr, wo ich das gelesen habe, aber das Sujet transkontinental pendelnder Nachfahren, die sich vor der Flugzeugära auf den Routen der Sklavenschiffe den Schmerz der Ahnen zwischen den Kontinenten vergegenwärtigen mussten, hat mich schon einmal mitgenommen.
Die Gewalt hört nicht auf. Der Klimawandel ist die Fortsetzung der weißen Gewalt mit anderen Mitteln.
Alecia spricht von einer Notwendigkeit, Klimawandel und Rassismus zusammenzudenken. Die Klimakrise gewinne da ihre Totalität zuerst, wo die Gesellschaften von kolonialen Hierarchien aus ihren ursprünglichen Verankerungen gezogen wurden. Der Klimawandel sei die Fortsetzung der weißen Gewalt mit anderen Mitteln. Alecia vollendet mit einem Zitat von Stuart Hall:
„We are in but not of the west.“
Wir brauchen eine neue Vision von der Stellung des Menschen im Kosmos, fordert Alecia. Mendoza ließ Widerständler zur Abschreckung an Pranger stellen und in den Vorrichtungen verrotten. Mendozas hochnäsiges Terrorregime stachelte seine Leute zu Gewalttaten gegen die Bevölkerung auf. Er erzog sie zu Marodeuren; zu Henkern aus eigenen Entschlüssen.
Hat man erst einmal mit dem Schlachten angefangen … Horden gereizter Guarani kreisten die Entdecker:innen ein. Mendoza kannte nur ein Rezept. Der Kriegsherr entsandte gegen den Feind Fußvolk und Ritterschaft, vierhundert Mann im Ganzen. Die Expedition führte Mendozas Bruder Diego an. Drei Tage später kehrten zwölf Klägliche zurück, alle anderen bereiteten den Geiern ein Fest in der Pampa. Die Guarani hatten einen Sumpf genutzt, eine Engstelle, die dem Korps geringen Spielraum bot. Da entfalteten sich die Nachteile komplizierter Waffen und die Vorteile unterkomplexer Lösungen. Die Pulverpfannen wurden nass, die Musketen versagten. Die dem Zügel entwöhnten Pferde bockten. Vergeblich warf sich Diego mit seinen Kavalieren auf die Bürger:innenwehr. Mehr als ein altes Geschlecht erlosch an diesem Tag.
Die Guarani kämpften mit ihren Leibern mehr als mit anderen Streitmitteln. Sie zerschellten schließlich an der Monotonie eines Mannes, der es für seine Aufgabe hielt, einen Militärposten nach dem nächsten in ihrem Gebiet aufzustellen. Es waren Verhungernde, mit denen er Nuestra Senora Santa Maria del Buen Aire gründet. Man sagt, Pedro de Mendoza habe das Fleisch vom Leichnam einer Geliebten nicht verschmäht, so heruntergekommen sei dieser „zum Herrschen geborene“ Kolonist zum Schluss gewesen. Die Guarani rannten gegen den Zaun, den die Okkupanten in die Landschaft gepflanzt hatten. Sie zerlegten Buenos Aires erst einmal. Die Spanier:innen wichen und gründeten Corpus Christi an der Stelle, wo Cabot, sein Eldorado direkt vor der Palisade vermutend, den Solís-Fluss in Rio de la Plata (Silberfluss) umbenannt hatte.