MenuMENU

zurück

2023-07-01 10:24:16, Jamal

Politische Prosa

„Selbst extrem avantgardistische Werke haben in Frankreich einen touch (Originalschreibweise) des dekorativ Angenehmen.“ Adorno

*

Adorno führt aus: „Glücksfeindlichkeit und (lutherisches) Asketentum“ sei die „deutsche Erbsünde“. Die Deutschen streben keine ästhetische Autonomie an. Lieber befahren sie „den Unterstrom des knechtisch Heteronomen“.

In seiner Abrechnung mit der engagierten Literatur kommt Adorno zu bemerkenswerten Schlüssen. Er verzichtet auf Sartre und Brecht als Galionsfiguren der politischen Prosa, rühmt Kafka und Beckett, um schließlich in Paul Klee das Ideal der engagierten Literatur zu erkennen.

„Wen einmal Kafkas Räder überfuhren, dem ist der Friede mit der Welt verloren.“

Adorno beschwört „die Demontagen des Scheins“ in den Werken von Kafka und Beckett. Der Existenzialismus sei dagegen ein „Kinderspiel“.

Adornos Held:innen sprengen „die Kunst von innen“. 

*

Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.

Ich um 1980 mit Pandae Dollyo Chagi © Jamal Tuschick

Ausrangierter Starrsinn

Am 28. Februar 1986 sehe ich die Premiere von Thomas Bernhards „Einfach kompliziert“ am Westberliner Schillertheater. Bernhard Minetti spielt einen ausrangierten Schauspieler vor der letzten Niederlage. Er wartet auf nichts mehr. Selbst sein Starrsinn ist sinnlos geworden. In jeder Erinnerung steckt Widerwillen, wenn nicht Hass. Einmal sagt er: „Das Geborenwerdenverbrechen/ist nicht zu verzeihen.“

In der Pause reden Leute über den Stillstand der Geschichte in ewiger Eiszeit. Ich bin einundzwanzig. Kaum, dass ich mitbekomme, wie einer auf der Premierenfeier, in meinen Augen ein Ball der Alten, sagt: „Sie haben den Palme umgelegt.“

*

Im Fall von Olof Palme funktionieren sämtliche Verschwörungstheorien. Der schwedische Ministerpräsident wurde nah der U-Bahnstation Rådmansgården in der Stockholmer City erschossen. Zum Täter erklärt man bald den polytoxikomanen Beschaffungskriminellen Christer Pettersson. Er wird erst schuldig und dann freigesprochen. Daraus macht er eine Nummer, mit der er bis zu seinem Tod im Jahr 2004 tingelt. Pettersson ist für die Schweden eine Enttäuschung als alter Groschenjunge, den kein Dunkelmann von Format auch nur zum Einparken seines Jaguars einsetzen würde. Der Mann bietet sich als Beispiel für moralischen Lochfraß an. Die Aufregung um ihn bezeichnet er in einem Interview als språngbräda - Sprungbrett.

Die Ermittlungen verschleißen einige Sonderkommissionsleiter:innen. Der Stockholmer Polizeipräsident und Wasa-Laufveteran Hans Holmér macht die PKK für den Mord verantwortlich.

„Der damalige Ermittlungsleiter Hans Holmér verfolgte die Spur nicht ordentlich. Er glaubte daran, dass die PKK Palme ermordet hatte.“ Aus der Süddeutschen Zeitung vom 10. Juni 2020

Frankfurt am Main 1989/Ritueller Rundumschlag

Ich unterrichte Deutsch für Ausländer:innen nach grotesk-einfachen Vorgaben (in einem konfessionellen Rahmen), nutze allvierzehntägig einen Waschsalon, sehe oft Filme im kk (wie kommunale kinowerkstatt, Originalschreibweise), reagiere euphorisch auf die Wiedervereinigung und verliebe mich auf der Weihnachtsfeier meines Verlages in eine unterfränkische Lektorin.

Die Brandungsgeräusche von Neunundachtzig … Mareike liegt das andere Deutschland ferner als Amerika. Sie wünscht sich eine ethnologische Annäherung. Auf meinem Futon überzeugt sie mich von der Notwendigkeit, in Weimar die Gewohnheiten der DDR-Bürger:innen, sie spricht von „Eingeborenen“, zu studieren und manchen Stein gewordenen Widerhall deutscher Klassik in Augenschein zu nehmen. Schließlich handelt es sich um unsere Kultur.

Der Ostblock bleibt für Mareike dystopisch. In dieser Ignoranz-Fasson statten wir der sich gerade übergebenden DDR einen Besuch ab. Furchtsam reise ich mit einem Elektroschocker im Handgepäck. Ich muss aufpassen, dass ich die Ereignisse rund um „die friedliche Revolution“ nicht auf der Kehrichtschaufel meiner Geschichtsvergessenheit zur Tonne der eigenen Einfalt trage.

Das große Verscherbeln hat schon begonnen, aber die DDR gibt es noch in ihrer Agonie. Viele Bürger:innen scheinen in einem starken Trennungsschmerz mit ihrem Land verbunden zu sein. Leute, die ahnungslos ihre lebensgeschichtlichen Brüche herbeidemonstriert haben, betrachten uns fassungslos. Jeder hat sich das und den anderen ganz anders vorgestellt.

Wieder in Frankfurt verknüpft Mareike so monoton wie monomanisch die kaputte DDR mit ihrer kaputten Familiengeschichte. Sie macht ihren Vater für den frühen Tod der Mutter verantwortlich. Während sie ihrem Vater den Tod wünschte, verlor sie die Mutter. 

Alles schien verkehrt eingerichtet.

Der Vater ist in Mareikes Wahrnehmung ein … und ein … Die Aufzählung kommt ohne originelle Sprachschöpfungen aus, so als verböte sich jedwede Kreativität an dieser Stelle. Gewaltphantasien flankieren die Tiraden und vernebeln Mareikes Gehirn. 

In der holzigen Höhlenartigkeit einer Schwanheimer Mansarde geht Mareike mit mir ihr Leben durch. Ein Erinnerungs-Wir schließt den Vater nicht immer nur negativ ein. Manchmal schimmert Stolz auf den Kotzbrocken durch die Ablehnung. Ein paar Mal mehr als selten hat man etwas gemeinsam erlebt, dass positiv zu Buche schlug, so wie die Suche nach Gold in der Eder. 

In einem Verhau aus kruden Darstellungen verbirgt sich eine Heranwachsende, die im Herrschaftsbereich der väterlichen Verwahrlosung ständig sprungbereit auf der Hut war. Dazu bald mehr.