MenuMENU

zurück

2023-07-02 08:40:45, Jamal

Aggressive Energie

Eishaie erreichen ihre Geschlechtsreife im Alter von hundertfünfzig Jahren. Im Schneckentempo wachsen sie bis zu der Größe Weißer Haie. Es kursiert die Vermutung, dass sich im Arktischen Ozean Exemplare der Erforschung verweigern, die schon in der Kolumbusära existierten. In einem Grönlandwal, den man in diesem Jahrtausend gewaltsam auf Eis legte, fand man Harpunenspitzen, die verrieten, dass das Tier im 19. Jahrhundert seinen Jägern entgangen war. Obwohl Grönlandwale kaum natürliche Feinde haben, „bleibt ihr Überlebensprogramm immer in Alarmbereitschaft“ (David A. Sinclair).

*

Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.

*

„Es war das Nahen des zweiten Flugzeuges, das haigleich über die Freiheitsstatue hinwegglitt: Das war der entscheidende Augenblick, der alles klar werden ließ. Bis dahin glaubte Amerika, es sei lediglich Zeuge der schlimmsten Luftfahrtkatastrophe in der Geschichte gewesen; nun hatte es einen Begriff von der ungeheuerlich aggressiven Energie, die sich gegen das Land richtete.“ Martin Amis

*

„Vergessenes Erleben, aber man kann sicher sein, / dass es mitgewirkt hat, später, wenn wieder einmal eine Situation entstanden war, / bei der man nicht wusste, / ob nach der Dämmerung die Nacht kommt oder der Morgen.“ Jürgen Becker

In den 1990er Jahren auf dem Mühlheimer Wehr. © Jamal Tuschick

Spekulative Ethnologie

In der Hochzeit der Afrika-Expeditionen und der spekulativen Ethnologie befasste sich der Journalist Henry Mayhew (1812 - 1887) mit der Armutsarchaik vor der eigenen Haustür. Er betrieb Völkerkunde in den Gassen von London und unterschied Stämme von Klans.  

In der boddenbaltischen Ländlichkeit lebt der aus Mühlheim am Main gebürtige Einar Ehrentraut wie in Traum und Nebel. Er betreibt seine eigene Ethnologie, wenn er zum Friseur geht oder sich eine Zeitung holt.

Einar wohnt da, wo andere Urlaub machen. Das heilt sein Heimweh nicht. Er wird nicht warm mit den Leuten vor Ort. Sie sind ihm nicht nach der Mütze, und er ihnen auch nicht.

Sozial schwindsüchtig zieht Einar um die Reetdachhäuser.

*

Nach einem Einkauf im Edeka von A… erklärt Einar seiner Ex Elke, dass jede Französin die Zutaten für ein Ratatouille aus dem eigenen Garten bezöge. Tomaten, Zucchini, Auberginen, Zwiebeln und Knoblauch wüchsen paradiesisch vor allen Haustüren.

Elke reagiert nicht auf das geschönte Frankreich-Bild.

Was zuvor geschah

Angst vorm Fliegen erschien Mitte der 1970er Jahre auf Deutsch. Zehn Jahre später löste Erica Jongs Millionensellerdebüt in der aus Ahrenshoop gebürtigen, in Mühlheim am Main gestrandeten, vorgeblich republikflüchtigen Zootechnikerin Elke Čarnica ähnliche Empfindungen aus wie Geschichten in Westillustrierten über Reiche auf Sylt, Marianne Bachmeiers Rache, die New Yorker Mafia und Uschi Obermaiers breit diskutierte Liebe zu Dieter Bockhorn.

In der südhessischen Idylle angelte sich die Kundschafterin des Friedens den von Grund auf harmlosen, bodenständig-soliden Einar E. Der dreißigjährige Einzelhandelskaufmann wohnte bei seinen Eltern. Mit „frauenspezifischen Methoden“ trieb Elke Einar in die Hörigkeit. Sie haute seine Steiff-Menagerie in die Tonne. Elke bemächtigte sich Einars Plattensammlung. Auf Geheimdienstdschungelpfaden ließ sie die LPs nach Ostberlin schaffen. 1989 trennte sich Elke von Einar. Knall auf Fall heiratete sie ihren Führungsoffizier Wotan ‚Stalin‘ Freiling. Das Paar lebte zunächst in Berlin. 2000 siedelte es sich an der baltischen Riviera an. Das Tscheka*-Tandem zog in Elkes Großelternhaus ein. Zu dem sagenhaften Skipperhus demnächst mehr.

*Zuchtmeisterin der Stasi war das NKGB. Das Institut der engagierten Rechtspflege nahm Maß am ersten sowjetischen Geheimdienst. Die deutschen Verbündeten wurden mit dem „Tscheka“-Terrorstil vertraut gemacht. „Tscheka“ steht für „Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“. Gegründet wurde dieser Staatssicherheitsdienst 1917. 

Elke und Stalin stiegen in das von Ex-MfS- und Stasi-Leuten kontrollierte Immobiliengeschäft ein. Die Freilings verdienten sich goldene Nasen. 2012 ertrank Wotan F. nahe dem Nordwestufer des Saaler Boddens. Zumindest war Ertrinken die offizielle Todesursache. Ein halbes Jahr später zog Einar bei Elke ein. Seither bilden die beiden eine Wohngemeinschaft, in der Elke zwar den Ton angibt, Einar aber auf seinen Kosten kommt.

So geht es weiter

Ab und zu sagt Elke etwas außer der Reihe. Zum Beispiel sagt sie: „Muskeln werden enerviert und werden sie das nicht, ist Atrophie die Folge.“

Einar kann sich nicht merken, was Elke schon alles beruflich gemacht hat. Sie bringt den Schrecklichen Pfeilgiftfrosch (Phyllobates terribilis) ins Spiel. Einar ist der Zusammenhang entgangen. Er dreht das gute Gras aus Wustrow in eine Tüte. Das ist der wahre Küstennebel.   

Tyrann in der Strickjacke – Bekifft erinnert sich Einar an seine Jugend in Südhessen

Die bleierne Zeit lag in den letzten Zügen. Antonia ‚Toni‘ Weber besserte im Hanauer Tonträger heimlich ihr Taschengeld auf. Die klamme Kundschaft konnte da ohne Kaufzwang stundenlang Platten hören.

Ohne Kaufzwang. Wie großzügig der angehende Einzelhandelskaufmann Einar das fand. Wie ausreichend das als Geschäftsidee war.

Sofort steht Einar Tonis Chef Bernie vor Augen: ein verklebter Typ, ewig ungekämmt, verpennt und verpeilt. Trotzdem bestens informiert. Bernie saß jeden Abend im Hanau-Steinheimer Treff und genoss sein Unternehmerglück im Kreis der Propheten. Diese Leute hatten Ansagen gemacht und Recht behalten. Sie waren nach dem Abitur ohne Auszeit und Studium durchgestartet, selbstverständlich unter Umgehung staatsbürgerlicher Pflichten.

Einars Vater zum Sohn: „Du drückst dich nicht nach Berlin weg.“

Die Väter der Propheten hatten ihre Beziehungen spielen lassen. Sie waren mit ihren Söhnen bei befreundeten Sparkassenleitern (Tennisfreunden) vorstellig geworden und hatten Kredite losgeeist: für eine neuartige Dämmstoffproduktion, für die Umgestaltung einer aufgelassenen Fabrik, für einen Weinhandel, der vierzig Jahre später als Mutterhaus von zig Filialen in aller Munde sein würde.

Die Propheten verkörperten die nächste Generation des bodenständigen Mittelstandes.

Tonis Mutter durfte nicht arbeiten, sie war dem „Haushaltsvorstand“ genauso unterworfen wie die Töchter. Tonis Vater, Vinzent Weber, gab den bibelfesten Tyrannen in der Strickjacke. Er hielt sich an eine anachronistische Verbotsliste und kritisierte die Manieren der Freundinnen seiner Töchter. 

Die Töchter trugen Vinzent die Schlappen nach und hefteten sie an seine Füße. Gegen Vinzent half nur träumen.  

*

Jeder Jahrgang hatte seinen Selbstmörder. Martin lehnte sich mit Rimbaud gegen die Verhältnisse auf. Er lebte bei einer abgedrehten Oma und einem auf LSD-Trips in sein eigenes Sonnensystem vorgedrungenen Opa in einem Lämmerspieler Widerstandsnest. Nach der Beerdigung fuhr Einar auf seinem Rad am Main entlang bis nach Aschaffenburg (und retour). Ihm reichten die kleinen Freuden, um ganz und gar froh zu sein.