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2023-07-03 11:21:46, Jamal

„Die körpereigenen Abwehrsysteme sind biologische Wunder, doch … Keime und Viren (bleiben) unschlagbare Angreifer.“ Ina Knobloch

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Um 1980 © Jamal Tuschick

Welt ohne Freiheit

Das Habsburger Reich erwehrte sich der Pest erfolgreich mit einer Befestigung seiner Außengrenzen. Es verschanzte sich hinter einer Sperrzone von Kroatien bis Moldawien. Das Osmanische Reich stellte das Wiener Regime mit militärischen Mitteln unter Quarantäne.

„Auf der türkischen Seite des Balkans wütetet die Pest noch bis 1840, auf der österreichischen ward sie nie mehr gesehen.“

Das erklärte der Archäologe Ian Morris (siehe Covid 19 - Antworten aus der Vergangenheit) zu einer Zeit, als gegen das pandemische Virus noch kein Kraut gewachsen schien. Karl Heinz Götze bemerkte damals in einem im Merkur erschienenen Aufsatz Der absolute Geist, die Cholera und die Himmelfahrt des Philosophen. Hegels Tod und Bestattung: „Preußen machte (nach dem Choleraausbruch im angezeigten Jahr), was man am besten konnte. Man führte Krieg gegen die Krankheit … Die Cholera lachte darüber und holte am 23. August 1831 … Gneisenau, den Oberbefehlshaber des Preußischen Heeres, im November des gleichen Jahres Clausewitz, den berühmten Strategen.“

Bis zum Zeitalter der Massenimpfung war Quarantäne der Hauptseuchenschutz. Morris stellte fest, dass uns Covid 19 so lange auf den Stand der Habsburger zurückwerfen werde, bis wir als Wirtinnen nicht mehr wehrlos sein würden. Im Augenblick der Feststellung hatten wir „die Wahl zwischen Abstand und Tod“. Morris sah ein neues Zeitalter anbrechen, in dem westliche Demokratien ihren Vorbildcharakter verlören. Der Wissenschaftler heftete den Ausblick an eine spekulative historische Marke. Vielleicht waren wir in der Wildbeuterinnen-Ära, die vor zwölftausend Jahren (in einem Wettbewerb der Hierarchien) endete, gleicher als wir es heute wahrhaben können. Dem ursprünglichen Regime näherten sich Begünstige der nördlichen Hemisphäre als Nutznießerinnen fossiler Brennstoffe. Die Egalisierungsimpulse - ein soziales Echo der Transformation von chemischer in thermischer Energie - verlieren ihre Legitimität. Endet in künftigen Verteilungskämpfen auch die Bereitschaft, Mehrheitsentscheidungen gelten zu lassen?  

Politik als „Brennstofffrage“; eine Welt mit Wohlstand für (relativ) Viele und Freiheit für (absolut) Wenige: das dystopische Zukunftsprogramm kenne ich seit meiner Kindheit. Es gehörte zu den - ebenso düster wie entspannt vorgetragenen - Visionen meines Großvaters Hartmann Klingenberg. Der alte Zauberer war zugleich Berserker und Ackerphilosoph. Er trat als Kirchenältester einer Sekte auf. Seine extrem robuste Verkörperung spiritueller Autonomie wirkte so magnetisch wie abstoßend.  

Hartmanns Credo lautete: Wir sind göttlich. Wir sind Fleisch gewordenes Universum. Wir sind All-Bewusstsein. Wer sich trotzdem unterjochen lässt, ist selbst schuld oder verworfen.

Kosmisch dimensionierter Vorwurf

Der alte Zauberer warf mit Wurst und Käse. So monierte er die Qualität der Sachen. Die Überschreitungen der (von ihm diktierten) Tischordnung entsprachen kosmisch dimensionierten Vorwürfen. Mich beeindruckten die einfachen Wörter, mit denen das Höchste zuhause angesprochen wurden. Großvater redete über das Universum wie ein Bauer über den Acker. Seinen persönlichen Beschriftungen fehlte alles Beflissene. Er lehrte mich eine Freiheit des Fühlens, weit weg von abergläubischen und pseudo-gelehrten Formeln. Er kreierte Zerwürfnisse, wann immer er seine Feinstofflichkeit missachtet fand.

In seiner Aura habe ich alles zum ersten Mal gesehen, erdgebundene Seelen, die nicht von der Stelle kommen und wie in einem Käfig festsitzen. Sie begreifen ihre Lage nicht. Sie wähnen sich noch im Mantel der Leiblichkeit. Als Kind erkannte ich sie einfach. Ich sah Teufel. Das sind emanzipierte Dämonen. Sie greifen Beute in der geistigen Darmfauna und anderen Arenen der Kompostierung. Ihre schwächeren Geschwister, die Dämonen, zeugen wir selbst in Verdichtungen negativer Energie. Zurzeit lebe ich mit zwei Dämonen, einem Teufel, der sich lange verborgen hielt, und einem Biest. Das Biest erkläre ich später.

Sein Organisationstalent befähigte Hartmann zu unternehmerischen Großtaten. Das Wirtschaftswunder hatte er in den 1940er Jahren mit einer Armada von fünf Lastwagen und einem Volkswagen für die Sonntagsausflüge vorweggenommen. Da war er der sechstgrößte Spediteur in der Lohnfuhrhochburg … gewesen.

Sonntagsausflüge im eigenen Personenkraftwagen hatten die Exklusivität von Italienurlauben.

Hartmann wollte reich, nicht bloß wohlhabend sein. Alles andere erschien ihm kindisch. Gab es einen stärkeren Beweis der Überlegenheit als Reichtum? Ein armer Zauberer, was war das mehr als der Spuk in einem Flohzirkus? Am Ende einer langen Rückschau auf das Leben meines Großvaters wird mir klar, dass es für einen Zauberer gar keine andere Beschäftigung geben kann als eine unternehmerische.  

Hartmann nahm nichts auf die leichte Schulter. Er trat nicht leger auf. Die häusliche Bibelauslegung und der Kirchgang (die Kirche war eine Mehrzweckhalle auf dem Werksgelände) zählten zu seiner Alltagsroutine. 

Zu einer Zeit, als Straßensperren der Besatzungsmächte den Verkehr störten, war dem Spediteur ein Unglück widerfahren, das er in seiner Unwahrscheinlichkeit als Schicksalswink mit dem Zaunpfahl empfand.

Eines Tages blieben drei Fuhrwerke auf der Strecke. Die Verhältnisse lagen noch so, dass man ungebremst verschüttgehen konnte und nicht jeder, der weg war, gleich für verschollen galt. Deutschland war zerschlagen, in bäurischen Gegenden traf man manchmal tagelang keine Verkehrsteilnehmerin mit Telefon. Ein Fahrer meldete sich erst nach Ablauf einer Woche aus der tiefen Pfalz. Er hatte die erste Gelegenheit für ein Lebenszeichen genutzt.

Von jetzt auf gleich verlor Hartmann das Vertrauen ins Speditionswesen. In der jungen Republik kaufte er Flurstücke in einem unterfränkischen Winkel, der heute noch wie beiseitegeschoben daliegt. Das Dorf Mainweiler stellt sich als Abwechslung zu landwirtschaftlichen Nutzflächen dar. Unterbrochen werden die Felder von Grünstreifen, Waldinseln - und Bachläufen, die zu Hochwasserzeiten aufrauschen und im Sommer schon mal versiegen.

Eine Eingesessene könnte jeder Dahergelaufenen Artefakte aus der Karolinger Zeit zeigen, sie zu einem Hügelgrab oder auf die Krimmer Trutz führen - oder in die Klingsor Aue, einem wurzelechten Hochmoor, das man weit und breit nicht noch einmal findet. Nur, warum sollte sie das tun? Die Mainweiler:innen sind sich selbst genug.