Krise des Daseins
„Natürliche Selektion ist ein rein mechanischer, automatischer Vorgang. Die Welt füllt sich ständig mit Gebilden, die gut überleben können, und wird von denen befreit, die dazu nicht in der Lage sind.“ Richard Dawkins
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Jede Trennung von der Mutter verschärft die Krise des Daseins. Die ständige Atemnot und eine solide Hinfälligkeit signieren einen Zustand, dessen Ladungen nur mit komplizierten Narrativen gesichert werden können. Die fadenscheinigste Normalität hält wie eine zu kurze Decke notdürftig her. Das kranke Kind entgeht allein in der Gegenwart der zu äußerster Fürsorge entschlossenen, restlos alarmierten und in permanenter Bereitschaft gehaltenen Mutter der Panik eines Ertrinkenden. Falls sich eine Unterbrechung der Symbiose nicht abwenden lässt, treten Vorkehrungen in Kraft, die das schlafende Genie mit doppelten Belichtungen herausfordern. Die Mutter verabschiedet sich zu einem so frühen Zeitpunkt, dass dem Abschied wenigstens eine Dimension fehlt; so dass die vorläufige Endgültigkeit sich wie in einem Jahrmarktsschwindel auflöst. Man ist eben erst auf dem Bahnsteig angekommen; der Zug fährt noch gar nicht ab. Die Frist wirkt als Puffer. Erst als der halbwüchsige Erzähler seinen Platz im Coupé einnimmt, beweist sich die Abwesenheit der Mutter „in einem Moment ohnmächtiger Klarsicht“ als unabweisbare Tatsache. Der Mutter als Ersatz dient eine Großmutter. Mit ihr reist Marcel in die Ferien.
„Meine Mutter, die mich mit meiner Großmutter nach Balbec schickte und allein in Paris zurückblieb, konnte sich denken, wie verzweifelt ich war, sie verlassen zu müssen; sie beschloss deshalb, uns lange im Voraus ... Adieu zu sagen.“
Zitate aus: Marcel Proust, „Der gewendete Tag. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in den Vorabdrucken“, aus dem Französischen von Christina Viragh, Hanno Helbling, Menasse, 24.90 Euro
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In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick
Der Senf zusammengetragener Kümmernisse - Eine Episode aus dem Jahr 1994
Idyllisch herb und laubbläserisch aufdringlich liegen die Verhältnisse, in die Kerstin, Katinka, Clemens und Leo mit entzündeten Existenzzahnhälsen aufgeschlagen sind, als wäre in Berlin kein Platz mehr. Die Familie hat nichts mitgebracht, was in Mainweiler zählt.
Die Neuen fühlen sich trotzdem großstädtisch überlegen, während die Rohrzange Anpassung sie kleinstädtisch kneift. Davon erzählt Hanna in Passagen, die wie gemalte Erfahrungsberichte in einem Klassenzimmer aneinandergereiht sind. Mal geht sie ins Detail und fokussiert einen Ausschnitt, dann mischt sie wieder den Senf zusammengetragener Kümmernisse.
Ich lasse mir das an einem sonnigen Nachmittag gefallen. Hanna gehört episodisch zu meiner Vergangenheit. Uns verbinden ein paar Diskonächte auf der hessischen Seite vor vierzehn Jahren. Hanna ist spät Mutter geworden, Katinka fährt auf einer verkehrsberuhigten Straße Roller. Leo vibriert zu meinen Füßen.
Hanna bestückt eine Leine. So angebunden stellt sie fest: „Besser, man will, was man muss.“
Das Gras steht hoch in Hannas Garten. Eine Wurstbude stinkt hinein als Relikt aus der Zeit, als es in Mainweiler noch Durchgangsverkehr gab.
Nachbarn nehmen für die Neuen die Post an und besprechen die Absender mit Eingesessenen. Sie versorgen Katinka mit einer Mahlzeit nach Absprache. Eingeladen fühlen darf sich die Familie trotzdem nicht. Es wurde noch kein Werkzeug über den Zaun gereicht, obwohl alle wissen, was fehlt. In den Schuppen der Mainweiler:innen stehen Boote. Der lokale Snobismus gibt sich am Hafen zu erkennen. Nicht einmal dörflich erscheint der Ort da, wo die Konfluenz an der Landzunge leckt und im Herbst Stimmungen wie auf einer vernebelten Nehrung selten sind.
Hanna schlägt um sich. Sie zu stechen, scheint die Lieblingsbeschäftigung aller Mainweiler Mücken zu sein. Auf ihren Armen nehmen rote Flecken zu. Das sieht nach einer gravierenden Reaktion aus.
„Wir brauchen eine neue Waschmaschine, meine schleudert nicht mehr vernünftig“, verkündet Hanna. Ein Roman schleudert zwischen wir und meine. Hanna war Studentin, als sie sich für Clemens entschied. Er zog zu ihr. Selbstverständlich war es ihre Maschine, in die er seine Wäsche stopfte. Clemens besaß keine Geräte. Damals bekam Hanna manchmal ein schlechtes Gewissen, wegen all der Dinge, die zu besitzen sie nötig fand. Clemens war Asket. Hanna fand das erst mal gut und entkrampfend, dass er ihr Auto nutzte, ohne zu fragen, und das Benzingeld aus der gemeinsamen Kasse nahm. Fast immer, wenn sie es brauchte, rückte Clemens das Auto heraus. Oft war der Tank gerade leer.
Ich zappele unbequem in einer Liegestuhlfalle. Ich würde Katinka übernehmen, sollte Hanna etwas zustoßen und Clemens außerstande sein.
Ich beobachte Hannas Gliederspiel. Zu spät erkannte Hanna in Clemens den von Grund auf erschlafften Charakter eines überall hin bloß mitgenommenen Hanswursts.
Seine Leichtfertigkeit legt er Hanna zur Last. Er überlässt ihr die Hausarbeit. Sie arbeitet außerdem für die kleinste Münze legaler Löhnung in der Kantine unserer Gesamtschule. Hat sie studiert, um sich zur Magd zu machen, die allezeit gute Laune heuchelt? Mir geht es gut? Der Supermarkt wartet an der nächsten Ecke. Die Nachbarn sind nett. Mir geht es gut. Der Clemens ist rücksichtslos, die Kati launisch, mir geht es gut. Clemens weiß, wie man sich aus dem Alltag drückt und in einer Seidenspinnerei alle an sich vorbeilaufen lässt. Noch ernährt er die Familie.
Hanna verweigert vielleicht nicht nur in meiner Gegenwart die Routine der Notverbergung.
Clemens taucht auf und schämt sich offensichtlich für die Erschöpfte, die ihn geheiratet hat. Unermüdlich gibt sie ihm die Schuld an ihrer Misere. Obwohl er ihr gegenüber oft genug von sich selbst abgeraten hat.