Er kriegt Carte blanche bei der Vogue France. Sein Stil trifft den Nagelkopf der Swinging Sixties. Die Ära zündet seine Ladung. Sie setzt das Potential frei. Wie Phönix aus der Asche steigt Helmut Newton kometenhaft auf.
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Helmut Newtons Inszenierungen bebildern den Rausch des gesellschaftlichen Aufbruchs der 1960er Jahre. Newton illustriert die Libertinage der Bourgeoisie. Die Libertinage ist eine Folge der bürgerlichen Todesverdrängung. Siehe Walter Benjamin: „Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand gestorben war. (…) Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien oder in Krankenhäusern verstaut.“ Newton liegt auf einer Linie mit Luis Buñuel und Claude Chabrol. Den Kristallisationsmomenten des Lebens liefert er surreale Kommentare in einem Mix aus tatortikonografischen Konnotationen in Film-noir-Manier und Fetisch-Accessoires. Auch Yves Saint Laurents Damensmoking verleiht Newtons Schick eine Signatur.
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Tatortfotonostalgie
In den 1960er Jahren kriegt Helmut Newton Carte blanche bei der Vogue France. Sein Stil trifft den Nagelkopf der Swinging Sixties. Die Ära zündet seine Ladung. Paris setzt das Potential frei. June und Helmut ziehen in ein „Haussmann-Gebäude in der Avenue de la Bourdonnais“. Sie erzeugen ihr eigenes Kraftfeld in permanenter Kollaboration.
Der Biograf weist daraufhin, dass in den Kooperationen eine innovative Diskurslinie die Mainstreamansichten durchkreuzt.
„Ein Fotograf, der in seinen Schwarz-Weiß-Bildern Männerphantasien verhöhnte.“
José Alvarez, „June und Helmut Newton. Biografie eines Künstlerpaars“, auf Deutsch von Kirsten Gleinig, Aufbau, 231 Seiten, 28,-
Newton ist ein Herold des gesellschaftlichen Wandels. Sein Portfolio wächst rasant. Schließlich macht ihm der unfassbar vielseitige US-Vogue-Direktor Alexander Liberman ein Angebot, dass Newton nicht ausschlagen kann.
Erschöpft erreicht der Star die Stadt der Stars. In New York bricht er zusammen. Trotzdem liefert er ab, alle Erwartungen übertreffend.
Alvarez bringt es auf den Punkt. Newton antizipiert ein ikonografisches Momentum des 21. Jahrhunderts. Superreiche, die in verbotenem Luxus schwelgen, leben mit den Drohungen einer „moralisierenden Gesellschaft“.
Unter dem Künstlerinnennamen Alice Springs startet June in den frühen 1970er Jahren ihre eigene Produktion. Sie porträtiert auch Joseph Beuys, Toni Morrison, Christopher Isherwood, Niki de Saint Phalle, Yves Saint Laurent und Martin Luther King.
1983 erscheint der erste Fotoband.
Zeitliches Rollfeld
1938 flieht Helmut Neustädter, der als Helmut Newton Weltruhm erlangen wird, aus dem faschistischen Deutschland Richtung China. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führt er das Schattendasein eines mittellos Expatriierten in der britischen Kronkolonie Singapur. Mit dem Kriegseintritt Großbritanniens verbindet sich Helmuts Ausweisung. Auf der Queen Mary erreicht er Melbourne. Seine ersten beiden australischen Jahre verbringt Helmut in einem entlegenen Winkel im Nordosten des Bundesstaates Victoria als Internierter in dem Lager Tatura. Er freundet sich mit dem Musiker Wally Würzenberg an. Die beiden bilden eine Trutzgemeinschaft dann auch als Pfirsichpflücker in dem Obstanbau-Eldorado Shepparton. Es folgt eine halbwegs gemütliche Zwangsrekrutierung in Camp Pell.
José Alvarez, „June und Helmut Newton. Biografie eines Künstlerpaars“, auf Deutsch von Kirsten Gleinig, Aufbau, 231 Seiten, 28,-
Die Beflügelnde
Erst 1946 erfolgt die Entlassung. Helmut versucht, als Hochzeitsfotograf in Melbourne Fuß zu fassen. Er begegnet der - auf lokaler Ebene bereits erfolgreichen - Schauspielerin June Browne aka Brunell. Beinah aus dem Stand übernimmt sie Funktionen einer Flügelfrau. June garantiert die Rahmenbedingungen eines sagenhaften Aufstiegs.
In den 1950er Jahren zieht das Paar nach London. Helmut erlebt seine erste Würdigung als Fotograf in einer Festanstellung bei der englischen Vogue. Er kämpft mit Selbstzweifeln und harter Konkurrenz. Ihm im Nacken sitzt Claude Virgin.
London liegt ihm nicht. Eines Tages beschließt er einen Hals-über-Kopf-Umzug nach Paris. June und er packen ihren Kram in Helmuts Porsche und fahren das Auto direkt in ein Flugzeug der Silver City Airways. Keine halbe Stunde später landen sie auf dem europäischen Festland.
Das Paar erlebt Paris als Offenbarung. Am vorläufigen Ende einer Reihe von abrupten transkontinentalen Veränderungen etabliert es sich mit der Aussicht auf Dauerhaftigkeit in der französischen Kapitale. Helmut kriegt Carte blanche bei der Vogue France. Sein Stil trifft den Nagelkopf der Swinging Sixties. Die Ära zündet seine Ladung. Sie setzt das Potential frei. Wie Phönix aus der Asche steigt Helmut Newton kometenhaft auf.
Newtons Inszenierungen bebildern den Rausch des gesellschaftlichen Aufbruchs. Newton illustriert die Libertinage der Bourgeoisie. Er liegt auf einer Linie mit Luis Buñuel und Claude Chabrol. Dem Absurden liefert er surreale Kommentare.
Aus der Ankündigung
Das Porträt eines außergewöhnlichen Künstlerpaars und seiner Zeit
Ein Berliner Jude, der die Fotografie liebt, strandet in den vierziger Jahren in Australien und verliebt sich dort in eine junge Schauspielerin. Ein Jahr später heiraten June Browne und Helmut Newton. Zunächst ist sie sein Model und seine Assistentin, später fotografiert sie leidenschaftlich und erfolgreich selbst. In Paris revolutionieren die beiden gemeinsam die Kunstszene. Helmut wird zum Weltstar durch seine ungewöhnlich inszenierten Mode- und Aktfotos. June alias Alice Springs spezialisiert sich auf Porträts. Sein Werk ist nicht ohne ihren Einfluss zu denken, ihres nicht ohne seine Inspiration. Der gemeinsame Freund José Alvarez hat June und Helmut Newton Jahre lang begleitet und erzählt hier zum ersten Mal ihre Geschichte – mit außergewöhnlichen Details und bislang unbekannten Fotos.
Zum Autor
José Alvarez hat den Verlag Éditions du Regard gegründet und leitet ihn seit 1978. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Kataloge über Architektur, Kunst, Design, Fotografie usw. Er hat außerdem zwei Romane veröffentlicht. José Alvarez hat June und Helmt Newton jahrelang als Freund begleitet.
Zur Übersetzerin
Kirsten Gleinig hat Germanistik, Kunstgeschichte und Romanistik in Göttingen und Aix-en-Provence studiert. Seit 2002 ist sie freiberuflich als Lektorin tätig sowie als Übersetzerin und Autorin mit den Schwerpunkten Belletristik, Biografien, Kunst, Frankreich und Reise.