Totem und Tabu
„Daddy ging nicht nur einfach in den Sumpf. Er war ein Teil von ihm.“
In Rückblenden erzählt Loni Mae Murrow von ihrem fabelhaften Ranger-Vater. Sein Totemtier war der Schlangenhalsvogel. In der Marsch von Tallahassee (im US-Bundesstaat Florida) lehrte Boyd Murrow seine Tochter das Waldläufer-ABC und Trapper-Einmaleins. Sein Programm changierte zwischen engagiertem Umweltschutz, relaunchtem Hillbilly-Pathos, Wildhüter-Weisheiten, Anglerlatein und handfestem Überlebenstraining.
Virginia Hartman, „Tochter des Marschlands“, Roman, aus dem Amerikanischen von Frauke Brodd, Heyne, 462 Seiten, 22,-
Das Herz der Schönheit schlägt im Sumpf
Der sportliche Naturkundeunterricht förderte Lonis ornithologische Beobachtungsgabe. Bereits als Halbwüchsige bewies die Enkelin eines Ornithologie-Professors außerordentliches Geschick bei der zeichnerischen Auffassung von Vögeln. Boyd machte seiner Tochter die Wildnis auch als Gegenwelt zu Academia schmackhaft. Sie sollte in keinem Hörsaal je vergessen, wo das Herz der Schönheit schlägt.
Jahrzehnte später, im Jetzt der Romanereignisse, begegnet Loni in der Gestalt eines ansprechend muskulösen Bootsverleihers und Hydrogeologen einem würdigen Erben des alttestamentarisch-väterlichen Sumpfenthusiasmus. Adlai Brinkert kämpft um seine Fassung, sobald die schöne Kundin aufkreuzt, um ein bisschen zu paddeln und zu zeichnen. Adlai fasziniert die als Städterin camouflierte Trapper-Tochter mit all ihrem Wald- und Wiesenwissen. Lonis Kanukompetenz nötigt ihm außerdem Bewunderung ab.
Es kommt der Tag, da steigt Loni zu Adlai ins Kanu. Das Boot ist nicht aus Aluminium oder Fiberglas, so wie die Wasserfahrzeuge für Anfänger:innen. Vielmehr lädt Adlai Loni zu einer Spritztour in seinem privaten Birkenkanu ein.
„Unter optimalen Bedingungen ist … (Kanufahren) wie ein langsamer Tanz, bei dem man auf die Bewegungen des anderen reagiert.“
Durch sechzehnstöckige Kavernenlabyrinthe steigt Quellwasser auf, um in einen trägen Wasserlauf zu sprudeln. Adlai erweitert Lonis Marschwissen, zuerst ohne zu ahnen, dass sie mit den örtlichen Verhältnissen von Kindesbeinen an vertraut ist. Bis zum Tod des Vaters bot die elternhäusliche Umgebung in ihrer elementaren Ursprünglichkeit unzählige Unterrichtsangebote. Boyd ließ keine Gelegenheit verstreichen, den Fauna- und Flora-Kenntnisstand der Tochter zu erhöhen. Umso erstaunlicher, dass Loni die Kröte vom Selbstmord des Vaters schluckte.
Warum sollte sich ein dem Leben zugewandter, im Einklang mit seinen Neigungen existierender Familienmensch umbringen?
Aus der Ankündigung
Loni Mae Murrow liebt ihr geordnetes Leben in Washington, D.C., wo sie ihr Talent zum Beruf gemacht hat: Für ein Naturkundemuseum fertigt sie naturgetreue Zeichnungen von Vögeln an. Als ihre Mutter Ruth erkrankt, folgt sie nur widerwillig der Bitte ihres Bruders, in die Kleinstadt ihrer Kindheit im Marschland Floridas zu kommen. Denn inmitten der unberührten Landschaft lauern die Erinnerungen an Ruths Gefühlskälte und an den tragischen Tod ihres Vaters Boyd als Loni zwölf Jahre alt war. Dann findet sie einen Hinweis, der Boyds Bootsunfall in einem neuen Licht erscheinen lässt. Sie macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Und nach dem, was Familie, Liebe und Heimat für sie bedeuten.
»Hartman debütiert mit einem raffinierten und rasanten Familiendrama.... [Ihre] lebendigen Naturbeschreibungen und detaillierten Ausführungen über Museumsarbeit, Botanik und Ornithologie zeugen von dem Talent dieser Autorin« Publishers Weekly (11. Juli 2022)
Zur Autorin
Virginia Hartman unterrichtet Creative Writing an der George Washington University in Washington, D.C. Ihre Erzählungen, in denen das Verhältnis des Menschen zur Natur eine tragende Rolle spielt, wurden für diverse Preise nominiert. »Tochter des Marschlands« ist ihr erster Roman.