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2023-07-15 10:12:33, Jamal

„Ihn faszinierte die Vorstellung, dass der Himalaya einmal unter Wasser gestanden hatte … und zwar vor nur … sechzig Millionen Jahren. Es fiel ihm leicht, sich vorzustellen, wie die afrikanische und die europäische Platte in Zeitlupe gegeneinanderstießen, wie unter dem Bersten und Krachen titanischer Wellen neue Berge in die Höhe wuchsen und keuchende Fische und Kalmare mit sich nahmen, die langsam versteinerten.“ Anuradha Roy

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„Wo ich herkomme, wissen wir schon immer, dass uns jeder neue Tag ohne Vorwarnung um die Ohren fliegen kann.“ Anuradha Roy

Geniale Fußdrehscheibe/Dynastisches Unglück/Nippes im Kolossalformat

Taatha stößt Familien ins Unglück. Seit Jahrzehnten verdrängt der nun greise Immobilienmogul Eingesessene aus ihrem angestammten Eigentum in dem ehemaligen Töpferdorf Kummara. Taatha schwebt die komplette Neubebauung weitgehend in seinen Besitz gebrachter Quartiere vor. Im Weg stehen ihm nur noch zwei Brüder. So verschieden sie auch sein mögen, Elango und Vasu sperren sich einvernehmlich gegen eine Veräußerung des Familienstammsitzes.

Anuradha Roy, „Ton für die Götter“, Roman, auf Deutsch von Werner Löcher-Lawrence, Luchterhand Literaturverlag, 282 Seiten, 22,-

Im Kampf gegen den Tycoon sind sie Verschworene. Im Weiteren geht jeder seiner Wege. Elango charakterisiert Vasu als „wandelnden Taschenrechner“. Sich selbst rechnet der passionierte Töpfer und eskapistische Autorikscha-Chauffeur zu den Tagträumern. Dabei erscheint er nicht Wenigen in seinem Milieu als Illuminierter.

Elango stellt vor allem Nippes im Kolossalformat her. Er produziert Terrakotta-Urnen mit ausschließlich dekorativer Funktion. Trotzdem sind die Dinge „beseelt mit einem Lebensfunken ihres Schöpfers“.

Ein geerbtes Gewehr begreift Elango als „Objekt … bloßer Bewunderung“. Er pflegt es wie einen Kultgegenstand. Eines Nachts träumt er von einem in Flammen stehenden Pferd. Er sieht ein kosmisches Geschöpf, und deutet es gleichzeitig als „Zeichen und Boten“. Er erkennt darin einen Faustpfand seines Glücks.

Elango ist es gegeben, einem Traumwesen dessen kongenial-irdische Form zu verleihen.

Das Glück des Hindu hängt von der muslimischen Zohra ab. Anuradha Roy schildert beiläufig die toxischen Ladungen einer religiösen Segregation.

Elango reagiert nicht allein auf einen Traum, sondern auch auf eine Tradition. In der Dorfantike erschufen die Töpfer von Kummara jedes Jahr ein Pferd aus Ton just an der ergiebigsten Rohstoffstelle.

Elangos Revier heißt Kummarapet. Es gibt dazu einen Wikimapia-Eintrag.

An dem historischen Hotspot der Sand-Schluff-Ton-Magie initiiert der Begnadete eine höhere Tochter. Für Sara entwirft er eine „geniale Fußdrehscheibe“. 

Sara tritt als Ich-Erzählerin auf. Im Zenit der Handlungsgegenwart studiert sie in England und töpfert wie eine Besessene.

Der Roman reißt den Horizont von Saras Kindheit und Jugend auf. Als Heranwachsende übernimmt sie Betreuungsaufgaben, denen sie sich nicht stets gewachsen zeigt. Einmal vergisst Sara ihre Schwester Tia. Ein gutes Verhältnis verbindet sie mit Chinna aka Tashi, den Elango einst vor einem traurigen Schicksal bewahrte.

Anuradha Roys magischer Realismus fordert seinen Tribut in der Gestalt surrealer Volten.

Elango rettet einen Welpen, der zum Romanakteur heranwächst.

Der Hund verlor seine ‚Besitzerin und seinen Besitzer‘ bei einem Überfall, den der Mann versehrt und die Frau traumatisiert überlebte. Den Verlust des mit dem Namen Tashi bedachten Tierbabys thematisiert die Traumatisierte in einem Leserinnenbrief. Die traurige Mitteilung erscheint im Kummerkasten einer Tageszeitung. Die einschlägige Ansprechpartnerin firmiert als Vanamala Reddy.  

Hinter dem Pseudonym verbirgt sich Saras Mutter, die Journalistin Devika Nanaiya. Den Vater, ein Geologe, „faszinierte die Vorstellung, dass der Himalaya einmal unter Wasser gestanden hatte … und zwar vor nur … sechzig Millionen Jahren. Es fiel ihm leicht, sich vorzustellen, wie die afrikanische und die europäische Platte in Zeitlupe gegeneinanderstießen, wie unter dem Bersten und Krachen titanischer Wellen neue Berge in die Höhe wuchsen und keuchende Fische und Kalmare mit sich nahmen, die langsam versteinerten.“

Er stirbt mit siebenundfünfzig.

Aus der Ankündigung

Als der Töpfer Elango eines Morgens aus einem wilden Traum erwacht, weiß er, dass sich sein Leben für immer verändert hat. Er muss der Botschaft, die ihn erreicht hat, Gestalt verleihen - egal, von wem sie stammt, ob es die Hindu-Götter oder alte Töpferlegenden waren, die ihn von einem Pferd in Flammen träumen ließen, das den Ozean durchstreift. Er muss ein großes Terrakotta-Pferd schaffen! Und er muss es für Zohra tun, eine Muslimin, die er schon lange liebt, obwohl diese Liebe immer noch ein Tabu ist in Indien. Auf der anderen Seite der Welt, im kalten, nassen England, ist derweil auch für Sara das Töpfern überlebenswichtig geworden: Sie hat bei Elango gelernt, und jetzt, in einem unwirtlichen, ihr fremden Internat, ist es ihre einzige Verbindung zur verlorenen Heimat.

Zwischen Ost und West bewegt sich dieser Roman, zwischen alten Mythen und neuen Ideen. Und er erzählt von der Kraft des Schöpferischen in einer Welt, in der viel zu viele Menschen unter den Folgen von Fanatismus und Engstirnigkeit leiden.

Zur Autorin

Anuradha Roy hat mehrere Romane verfasst und lebt in Ranikhet, einer Stadt im indischen Himalaya. Die Autorin war 2011 für den Man Asian Booker Prize und 2016 für den Man Booker Prize nominiert, wurde 2011 mit dem Economist Crossword Prize und 2016 mit dem D.S.C. Prize for South Asian Literature ausgezeichnet. Ihr Roman »Der Garten meiner Mutter« kam auf die Shortlist des International Dublin Literary Award, des JCB Fiction Prize, des Hindu Literary Prize, wurde nominiert für den Walter Scott Prize for Historical Fiction und gewann den Tata Book of the Year Award for Fiction.

Zum Übersetzer

Werner Löcher-Lawrence, geb. 1956, studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München und als Lektor in verschiedenen Verlagen. Er ist der Übersetzer von u.a. Ethan Canin, Patricia Duncker, Michael Ignatieff, Jane Urquhart.

Auf Bali verzaubert und illuminiert der Deutsche Walter Spies 1927 eine Inderin in Umkehrung der üblichen Anordnung mit westlichem Lehrling und östlichem Meister.

Botanisches Tagebuch

Ein alter Landschaftsgärtner, der als ökologischer Berater eines Nationalparks Meriten erwarb und wegen einer Saxifraga sein Leben aufs Spiel zu setzen bereit war, erinnert sich. Das innere Schauspiel vollzieht sich 1992 in seinem Elternhaus in der fiktiven indischen Stadt Muntazir. Zum Beweis für alles Mögliche könnte der Erzähler jederzeit sein vielbändiges botanisches Tagebuch heranziehen.

Anuradha Roy, „Der Garten meiner Mutter“, Roman, auf Deutsch von Werner Löcher-Lawrence, Luchterhand Literaturverlag

Man nennt ihn Myschkin nach dem fürstlich-freundlichen Helden in Dostojewskis Roman „Der Idiot“. Myschkins Großvater praktizierte als Arzt in einem Ramschaden. Bis zum Verkauf diente das Angebot als Interieur. Eines Tages im Jahr 1937 erwarb der deutsche Musiker und Maler Walter Spies (1895-1942) in der Trödelpraxis einen Klapptisch. Der Kauf entsprach einer vorgeschobenen Handlung. Spies war auf der Suche nach Myshkins Mutter Gayatri.

Rückblende

In der Obhut ihres Vaters unternimmt die siebzehnjährige Gayatri 1927 eine Asienreise. Man ahmt eine europäische Lebensart nach. Die Unternehmung dient der Horizonterweiterung. Auf Bali begegnet Gayatri Spies. Er verzaubert und illuminiert die höhere Tochter in einer schönen Umkehrung der üblichen Anordnung mit westlicher Novizin und östlicher Meisterin. Spies ist vielseitig beschlagen, eine Ausnahmepersönlichkeit mit enormer Anziehungskraft. Der Sultan von Yogyakarta beschäftigt Spies als Kapellmeister.

Jahre später

An einem Monsunmorgen verlässt Gayatri ihre Familie. Sie brennt mit Spies durch, der als Brite durchgeht, so wie Weiße im Indisch-Allgemeinen. Der verlassene Ehemann verachtet Kastenkategorien. Myschkins Vater tiriliert auf einem Höhenweg der Humanität und besteht auf Gerechtigkeit auch gegenüber seiner Frau.

Gayatri lässt sich auf Bali nieder. Fortan wartet Myschkin darauf, dass sich die Mutterliebe in der Heimkehr erfüllt. Jahrzehnte später, längst hält es der Erzähler für angezeigt, „Vorbereitungen für ein geordnetes Ende zu treffen“, bringt Myschkin die Kraft auf, seiner Mutter recht zu geben.

Myschkin rollt seine Familiengeschichte auf, soweit er sie zurückverfolgen kann.  

Indische Hillbillys

Myschkins Urgroßvater Rai Chand agierte er als Kriegswaise in einem verwüsteten Land. Mit einer Zwille schoss er Mangos aus den Kronen. Er hungerte und bettelte sich durch Nordindien bis zum Gletschertor Gaumukh am Fuße des Gangotri, wo der Bhagirathi dem Himalaya entspringt - nach mythischer Annahme der Ursprung des Ganges und in jedem Fall eine seiner Quellen. In vereister Unwirtlichkeit verabreden sich Schakale zum Picknick. Schneeleoparden zeigen ihre Schönheit im Profil.

Das letzte Aufbäumen ergriffener Antilopen

„Die lauernde Wildnis“ erschien Chand weniger mysteriös als ein Ausbund indischer Hillbillys, die einen entlegenen Außenposten mit gedankenloser Grausamkeit bespielten. Anuradha Roy spricht von „marodierenden Mobs (und) schwer trinkenden Holzfällern und Jägern“ im Dienst des britischen Entrepreneurs Frederick Wilson.

1857 lieferte Wilson dem subkontinentalen Eisenbahnschienenbau die Schwellen. Er profitierte von einem gewaltigen Unternehmen. Zedern, „die Jahrhunderte“ für ihre sechzig Höhenmeter gebraucht hatten, ließ er im Akkord umlegen. Ihr Holz widersteht jedwedem Verfall. Es ist zudem termitenresistent. Die Stämme wurden geflößt. Als Herrscher über Berg & Tal prägte Wilson seine eigene Münze. 

Chand machte sich nützlich. Er stieg zum Manager auf und reüssierte schließlich in der Selbständigkeit eines Schreiners mit einigen Filialen. Vom Wohlstand blieb Chands frühverwaistem Sohn nichts außer dem mottenzerfressenen Präparat eines Glanzfasans und dem obligatorischen Tigerfell mit Bernsteinmurmelaugen. In diesem Plunder spielte er schließlich auch seine Rolle als Myschkins Großvater.