MenuMENU

zurück

2023-07-18 08:23:05, Jamal

„Wo ich herkomme, wissen wir schon immer, dass uns jeder neue Tag ohne Vorwarnung um die Ohren fliegen kann.“ Anuradha Roy

*

Sehen Sie auch hier.

*

„Es bedarf einer besonderen Art Feingefühl, die Zugänge einer Stadt zu verstehen.“  Akinbode Akinbiyi

*

„Die Schönheit der Formulierung eines barbarischen Tatbestands enthält Hoffnung auf die Utopie.“ Bertolt Brecht 

*

„Der Zweck macht den Stil.“ BB

*

„Juan Gris is the one who combine perfection with transsubstantiation.” Gertrude Stein

*

„Die Menschen scheinen weder ihre Mittel noch ihre Kräfte richtig zu kennen; von jenen halten sie mehr, von diesen weniger, als recht ist. So kommt es, dass sie entweder die vorhandenen Künste sinnlos überschätzen und nichts über sie hinaus verlangen oder dass sie sich selbst mehr als billig verachten, ihre Kräfte auf unbedeutende Dinge verwenden und in den wichtigsten nicht versuchen.“ Francis Bacon

*

„Weil er nun weder eigensinnig noch eitel genug ist, um nur alles - oder nichts zu wollen, so gab er, da der Tag einmal unglücklich und dies nicht zu ändern stand, statt alles auf eine Karte zu setzen, lieber das ganze Spiel auf. Die Möglichkeit, es bei einer besseren Chance wieder anzuknüpfen, blieb ihm ohnedies.“ Hermann Fürst von Pückler-Muskau, „Aus Mehemed Alis Reich“

Distinguierte Schönheit

Sie sind Außenseiter unter den höheren Töchtern im piekfeinen Minerva College. Teddy Novak, Mickey Giradi und Lincoln Moser bilden die akademische Unterschicht in einer Edelbildungsstätte im US-Bundesstaat Connecticut. Sie jobben da, wo andere ihre Privilegien genießen. Teddy und Lincoln bedienen ihre Kommilitoninnen in einem Verbindungshaus, das sie nur durch den Hintereingang betreten dürfen. Mickey putzt lieber Töpfe in der Küche. Der bullige Zweimetermann hält Abstand zur Sorority (Schwesternschaft); obwohl deren Speisesaal als Hort der distinguierten Schönheit unter männlichen Studierenden als Sehnsuchtsort sprichwörtlich geworden ist.    

Richard Russo, „Jenseits der Erwartungen“, Roman, aus dem Englischen von Monika Köpfer, Dumont, 430 Seiten, 22,-

Draft Lottery

Mickey vertritt die raubeinigen Standpunkte der italienisch-basierten Großstadtmigration. Seine Kinnhaken sind legendär. Im Weiteren verkörpert der „auf eine abgerissene Art“ Gutaussehende den selbstspielenden Rock’n’Roll-Fanatiker auf der Harley Davidson.

Teddy leidet unter Höhenangst und anderen Zuständen. Grüblerisch und inaktiv neigt er zu verstiegenen Exegesen.

Lincoln ist handfester als Teddy und anfälliger für des Gedankens Blässe als Mickey.

Alle drei erleben die Brüchigkeit ihrer Einer-für-alle-Gemeinschaft, als sie am 1. Dezember 1969 gemeinsam dem Risiko ausgesetzt sind, bei einem staatlich organisierten Glücksspiel das Vietnamticket zu ziehen. Siehe Draft lottery. Die Auslosung verfolgen die Freunde an einem Schwarzweiß-Fernseher im Gesindetrakt des Debütantinnenpalais.

Die jugendliche Unbekümmertheit verflüchtigt sich endgültig bei einem als Kumpel-Klausurtagung deklarierten Ferienhauswochenende in Chilmark rund um den Memorial-Day 1971. Die Musketiere feiern in der Gesellschaft ihrer Königin Justine ‚Jacy‘ Calloway.

„Sie (sieht) aus wie eine Hippieversion von Audrey Hepburn.“

Manchmal singt sie in Mickeys Band. Auf der Bühne erscheint sie als „eine verruchte Version von Grace Slick“.

Die Premiumelevin zieht gern mit Typen um die Häuser, die keine reichen Eltern haben. Ihr Bräutigam, ein angehender Jurist und praktizierender Katholik, trägt das Haar kurz. Jacy löst die Verlobung mit einer Postkartennotiz auf. Das Kartenmotiv zeigt die Gay Head Cliffs.

Jacy erregt Teddy im Atlantik. Wasserkälte und Erregungshitze paaren sich. Teddy fragt sich, ob Jacy ihn heimlich den anderen vorzieht. Er ahnt die Verwegenheit dieses Einfalls.

Bald verschwindet die mehrstimmig Angebetete unter mysteriösen Umständen. 

*

Teddy wuchs mit der Einsicht auf, eine von Nieten gezeugte Niete zu sein. Andere mieden ihn. Zum Trost hieß es, er sei besonders intelligent. Zum Glück glaubte das Teddy nicht. Er las viel. Also behauptete die Familienlegende, er lese gern. In Wahrheit fehlte der Fernseher im Haushalt.  

Dann kam die Pubertät. Teddy platzte aus der Kinderpelle und präsentierte sich von einem Tag auf den anderen als Recke mit mächtigen Schultern. Er avancierte zum Topscorer der Basketballschulmannschaft. Bald kriegten seine Rivalen spitz, dass Teddy nicht attackierte. Die Aussicht auf einen Ellenbogenstoß hielt ihn auf Abstand. Der Vermeider brach durch die Prachtschale. Die „lächerliche Gestalt“ seines Vaters verschaffte sich Geltung im Sohn.

Mickeys irisch-italienischen Eltern sind „stramme Patrioten nicht nur am 4. Juli“. Der Vater zog die Laufbahn eines gewerkschaftlich sattelfesten Rohrlegers einem Studium vor. Mickey genießt als männlicher Solist unter sieben Schwestern Vorteile. Er reißt sich kein Bein aus. Mr. Easy nennt ihn die Mutter. Dem rustikalen Vater entlockt er die Erlaubnis, am „humanistisch ausgerichteten (Minerva College) Gitarre als Hauptfach“ zu belegen.

Erbstück mit Meerblick - Jahrzehnte später

2015 treffen sich Teddy, Mickey und Lincoln zum ersten Mal nach Jahrzehnten wieder im Ferienhaus. Es gehört Lincoln. Er ist nun ein von den Rezessionen des 21. Jahrhunderts gebeutelter, im Vergleich mit vielen immer noch gut dastehender Immobilienmakler. Der Vater von sechs Kindern erwägt, das Erbstück mit Meerblick zu verscherbeln. Das von einem „malerisch hügeligen“, tausend Quadratmeter großen Areal eingeschlossene Domizil verdankt Lincoln seiner nie ganz aufgewachten, beinah durchgängig nachgiebigen, mitunter jedoch dramatisch resoluten Mutter.

„(Sie war) wie eine Brise, so leicht, dass sie kaum ein Windspiel zum Klirren brachte“; während Lincolns Vater ein donnernd-rechthaberischer Vertreter unumstößlicher Ansichten ist. Der evangelikale Eiferer überlebt seine Frau seit vielen Jahre.

Das Haus ist nur noch eine bessere Bruchbude. In der Nachbarschaft erschlaffen eingesessene Sonnenanbeter:innen. Der größte Kotzbrocken weit und breit heißt Mason Troyer. Gern stellt der Insulaner angesoffene Lässigkeit zur Schau. 

Aus der Ankündigung

 An einem Spätsommertag auf Martha’s Vineyard treffen sie sich wieder: Lincoln, Teddy und Mickey. Die drei Männer planen, das Wochenende in einem Ferienhaus auf der Insel zu verbringen – um der alten Zeiten willen. Seit dem Studium zu Vietnamkriegszeiten sind sie miteinander befreundet. Sie sind sehr unterschiedliche Wege gegangen, doch alle waren sie einst in dasselbe Mädchen verliebt, Jacy Calloway.
Kurz nach ihrem Abschluss verschwand Jacy spurlos. Aber keiner von ihnen hat die Freundin vergessen – oder die Frage, wen von ihnen Jacy eigentlich liebte. Schließlich beginnt Lincoln, sich erneut mit den Umständen ihres rätselhaften Verschwindens zu beschäftigen. Was ist damals wirklich passiert?
Richard Russo erzählt von drei Menschen,
die sich fremd geworden sind, und vom Umgang mit der Unsicherheit, ob die eigenen Lebensentscheidungen die richtigen waren. Wie nebenbei ergibt sich daraus das Porträt eines Landes, das sich selbst nicht mehr ganz versteht. Mit ›Jenseits der Erwartungen‹ zeigt Russo seine ganze Könnerschaft – als großer Erzähler und als Menschenkenner.

Zum Autor

Richard Russo, 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für ›Diese gottverdammten Träume‹ (DuMont 2016) erhielt er 2002 den Pulitzer-Preis. Bei DuMont erschienen außerdem ›Diese alte Sehnsucht‹ (2010), ›Ein grundzufriedener Mann‹ und ›Ein Mann der Tat‹ (beide 2017), sowie der Erzählband ›Immergleiche Wege‹ (2018), der SPIEGEL-Bestseller ›Jenseits der Erwartungen‹ (2020), ›Sh*tshow‹ (2020) und zuletzt ›Mittelalte Männer‹ (2021).