„Die lärmende Fröhlichkeit war nur vorgetäuscht, und in den Blicken lauerten Verachtung, Hass und Provokation.“
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„Ihr Leben lang hatten sie ihren Unmut verheimlicht, so fiel es ihnen nicht schwer, ihren Gegnern mit gelassener Miene entgegenzutreten, während sie zugleich einen Schlachtplan entwarfen.“
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Politische Eruption
Am 1. Januar 1804 warfen die Revolutionäre von Saint-Domingue das koloniale Joch ab „und erklärten ihre Inselnation zur souveränen Republik Haiti“. Kaiama L. Glover bezeichnet in ihrem Nachwort die politische Eruption als „außerordentlichen Akt absoluter Verweigerung“. Daraus ergab sich die „erste erfolgreiche Sklavenrevolution der Welt, (der erste) unabhängige Staat der Karibik und (die erste) Schwarze Republik des amerikanischen Kontinents“.
Deklassierte Mehrheit/Weiße Norm
Port-au-Prince 1792. Die Biografie der ‚Freigelassenen‘ Jasmine exemplifiziert eine koloniale Konstante. Als Tochter und Mutter wiederholt die Affranchi(e) das Schicksal ihrer Mutter. Jene war eine von ihrem „Besitzer“ vergewaltigte und geschwängerte Sklavin. Jasmine wird selbst Mutter von Töchtern, die ihr „Herr“ (sich Jasmine aufzwingend) zeugte. Nach einer testamentarischen Verfügung erlangt Jasmine und ihre Kinder die Freiheit. In der Romangegenwart zählt die Familie zum (Kleinhandel treibenden) Prekariat der französischen Kolonie Saint-Domingue (heute Haiti).
Ursprünglich war Saint-Domingue ein Briganten-Eldorado.
Marie Vieux-Chauvet, „Der Tanz auf dem Vulkan“, Roman, übersetzt von Nathalie Lemmens, mit einem Nachwort von Kaiama L. Glover, 486 Seiten, Manesse, 28,-
Die Herabgewürdigten dürfen keine Schuhe tragen und keine Schule besuchen.
„Mit dem Schmuck an ihren Zehen … wirken sie nur umso origineller und begehrenswerter.“ Der Anblick „diamantengeschmückter Füße“ verhagelt weißen Frauen das Herrschaftsvergnügen am Schuhverbot für freie Schwarze und PoC aka gens de couleur.
Eine editorische Notiz verweist darauf, dass noch zur Zeit der Romanniederschrift in den 1950er Jahren die „pseudowissenschaftliche Doktrin“ von „unterschiedlichen menschlichen Rassen“ weltweit die Debatte bestimmte. Der Phänotyp wurde deterministisch begriffen. Die Sprecher:innen schlossen pauschal „auf charakterliche und sittliche Anlagen“.
Es galt die weiße Norm. Im Verhältnis zu ihr entsprach das Nicht-Weiße allen möglichen deklassierenden Abweichungen.
Von den christlichen Routinen im Themenkreis der Sakramente sind die PocC und Schwarzen ausgeschlossen, um das Trostangebot der Kirche - vor Gott sind alle Menschen gleich - nicht wirksam werden zu lassen.
Die Herrschenden vermindern die christlichen Trostchancen. „Dass Jesus … der Vater aller Menschen sei, unabhängig von ihrer Hautfarbe“, lädt zu Gleichheitsforderungen ein. „Ihrer spirituellen Zuflucht beraubt“, wenden sich die Ausgeschlossenen dem Voodoo aus ihrer ersten Heimat zu.
„In dieser Religion (finden) sie das Ferment … dass noch die Energie des (erschöpftesten) Sklaven anzuregen (vermag).“
In ihren Urwaldrefugien wirkt der ursprüngliche Schamanismus stabilisierend und ermutigend auf die Entlaufenen - Maroons. Ferngespräche führen sie mit Trommeln und den Schneckenhausposaunen der Großen Fechterschnecke - Lambis. Religion, Tanz, Musik, Oral History und die (im Kontext der Sklaverei) Kassiber-Sprachen der Ursprungsgesellschaften ergeben eine kulturelle Textur und sind zugleich Werkzeuge im Befreiungskampf.
Die unterworfene Mehrheit bildet unter sich - in massiv verdichteter Unterschiedlichkeit - diverse Klassen aus. Die Affranchis stehen über den Sklaven und unter einer Reihe von nicht allein ethnisch begründeten Abstufungen. Es gibt tropfarme Weiße, auf den Hund gekommene Würdenträger:innen, zu Wohlstand gelangte Ex-Sklav:innen und noch mehr Varianten.
Auf hunderttausende Schwarzer kommen vierzigtausend Weiße. Markante Demarkationslinien verlaufen zwischen grands et petits blancs. Hier die Plantagenbarone, da ihre Aufseher und Zubringer. Die Usurpator:innen sehen einer düsteren Zukunft entgegen. 1804 entsteht in der Sphäre ihrer aktuellen Geltung die erste Schwarze Republik, die zugleich der erste unabhängige Staat in Lateinamerika sein wird.
Verwandtschaftliche Verbindungen zwischen der Randgruppe freier Bürger:innen zweiter Klasse und der Crème de la Crème sorgen für besondere Spannungen im Inselgefüge. Viele PoC haben statusstarke Väter. Mitunter hebt deren Rang den Nachwuchs über sozialschwache Weiße.
„Die größten Feinde der Plantagenbesitzer (sind) … landlose Weiße.“
Gleichzeitig sorgt die Gesetzgebung dafür, dass die nichtweißen Töchter und Söhne der Plantagenbarone nicht die Namen ihrer weißen Verwandten tragen dürfen. Darauf weist Kaiama L. Glover in ihrem Nachwort hin. Dazu morgen mehr.
Aus der Ankündigung
»Eine ergreifende Geschichte über Hass und Angst, Liebe und Verlust und die komplexen Spannungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Ein Meisterwerk.« Boston Globe
Port-au-Prince 1792: Minette ist die Tochter einer freigelassenen Sklavin. Dank ihrer außergewöhnlichen Gesangsstimme darf sie als erste Farbige im Theater von Port-au-Prince auftreten. Auf den Zuschauerrängen sitzen die Kolonialherren. Sie sind durch die harte Arbeit ihrer Sklaven reich geworden und kopieren die Pariser Lebensart. Doch unter der Oberfläche brodelt es schon lange. Die Ausbeutung von Mensch und Natur schürt soziale und ethnische Spannungen. Minette verliebt sich in einen erfolgreichen Freigelassenen. Als sie jedoch bemerkt, dass er seine Sklaven genauso brutal behandelt wie die Weißen, bricht sie mit ihm und schließt sich einer Untergrundorganisation an.
Wie schon in «Töchter Haitis» besticht Vieux-Chauvets Erzählkunst durch die lebensnahe Figurenzeichnung. Zudem ist «Tanz auf dem Vulkan» eine historische Tiefenlotung, die uns Geschichte und Gegenwart des Karibikstaates erschließt.
Zur Autorin
Marie Vieux-Chauvet (1916–1973) wurde in Port-au-Prince in Haiti geboren. Ihr Vater war haitianischer Politiker, die Mutter stammte von den ehemals spanischen, seit 1898 zu den Vereinigten Staaten gehörigen Jungferninseln. Sie besuchte die l‘Annexe de l‘École Normale d'Institutrices und machte 1933 ihren Abschluss als Grundschullehrerin. Kurz darauf heiratete sie Aymon Charlier, einen Arzt, ließ sich aber vier Jahre später scheiden. Ihren zweiten Mann, Pierre Chauvet, heiratete sie 1942. Ab 1947 trat sie als Theaterautorin in Erscheinung. Ihr erster Roman «Fille d'Haïti» erschien 1954 und wurde mit dem Prix de l'Alliance Française ausgezeichnet. Es folgten die Romane «La Danse sur le Volcan» (1957) und «Fonds des Nègres» (1960), für letzteren wurde sie mit dem Prix France-Antilles geehrt. Als François Duvalier Präsident wurde und sich als Papa Doc zum Diktator aufschwang, bedeutete das für sie massive Einschränkungen. Sie war einziges weibliches Mitglied in der haitianischen Autorenvereinigung «Les Araignées du Soir» («Die Spinnen des Abends»). Die «Trilogie Amour, Colère, Folie» (1969) erschien auf Fürsprache Simone de Beauvoirs. Aus Angst vor Repressalien kaufte ihr Mann alle in Haiti befindlichen Exemplare auf. Schließlich musste sie ins US-amerikanische Exil gehen und lebte bis zu ihrem Tod in New York. Dort schrieb sie auch ihren letzten Roman, «Les Rapaces», der 1971 erschien.