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2023-07-31 10:20:39, Jamal

Petits blancs* celebrated the fall of the Bastille with pillaging and burning … ‘Multitudes of vagabonds... deluged the (colony-)towns. Gangs of rioters appeared... as if from underground’.” David Patrick Geggus, “The British Occupation of Saint Dominque, 1793-1798”, Quelle

*Arme Weiße in der französischen Kolonie Saint-Domingue

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„Als 1789 die Nachricht von der Französischen Revolution Saint-Domingue erreichte, kam es … zu Aufständen, die sich … zu einem blutigen Bürgerkrieg ausweiteten, der in der haitianischen Revolution mündete.“ Quelle

Während in den 1790er Jahren vielerorts auf Saint-Domingue die Sklaverei dauerhaft endete, wurde sie in Arcahaie 1793 wieder eingeführt. Jean-Baptiste Lapointe, Plantagenbaron, Warlord und Bürgermeister von Arcahaie, übergab seine Stadt britischen Usurpatoren, nachdem er zuvor gegen das weiß-französische Establishment gekämpft hatte. In Marie Vieux-Chauvets Roman „Der Tanz auf dem Vulkan“ zieht der Schwarze Sklav:innenhalter seine Bedeutung vor allem aus dem Umstand, dass ihn Chauvets Heldin Minette liebt, obwohl er sich furchtbar aufführt. 

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Am 1. Januar 1804 warfen die Revolutionäre von Saint-Domingue das koloniale Joch ab „und erklärten ihre Inselnation zur souveränen Republik Haiti“. Kaiama L. Glover bezeichnet in ihrem Nachwort zu Chauvets Roman die politische Eruption als „außerordentlichen Akt absoluter Verweigerung“. Daraus ergab sich die „erste erfolgreiche Sklavenrevolution der Welt, (der erste) unabhängige Staat der Karibik und (die erste) Schwarze Republik des amerikanischen Kontinents“.

Koloniale Kastenregeln

Marie Vieux-Chauvet rückt die revolutionär-karibisch brodelnden Romanereignisse in einen historisch verbürgten Rahmen. Zu den Personen der Zeitgeschichte, die in dem „Tanz auf dem Vulkan“ ihren Auftritt haben, zählt der eingewanderte Entrepreneur François Mesplés. In der 1750 gegründeten Kapitale Port-au-Prince lässt er 1777 ein Theater mit 750 Sitzplätzen erbauen und nach sich benennen - Salle Mesplés. Sein unternehmerisches Engagement trifft einen Nerv der Zeit. Die französische, ständig von Erdbeben bedrohte, von britischen und spanischen Interessen tangierte Kolonie Saint-Domingue stellt sich bis in die 1790er Jahre als ein Hotspot des Showgeschäfts dar. Gemessen am potentiellen Publikum, sprich den wenigen freien Bürger:innen, übertrifft die insulare Darbietungsfülle das Kulturangebot im Mutterland.

„In Paris gab es um 1789 etwa 13.000 Theatersitze für eine Bevölkerung von über 600.000 Einwohnern (ein Sitzplatz für 45 Einwohner), in Saint-Domingue gab es zur gleichen Zeit etwa 3.000 Sitzplätze für etwa 20.000 potenzielle freie Zuschauer aus den Städten (ein Platz für 6 oder 7 freie Einwohner, einschließlich vorbeiziehender Soldaten).“ Bernard Camier, “La musique coloniale des Antilles françaises au 18ème siècle.”, Quelle

Marie Vieux-Chauvet, „Der Tanz auf dem Vulkan“, Roman, übersetzt von Nathalie Lemmens, mit einem Nachwort von Kaiama L. Glover, 486 Seiten, Manesse, 28,-

Trotzdem entsteht da nichts für die Ewigkeit. Mesplés betreibt seine Unternehmungen - im Einklang mit anderen ‚französischen‘ (im Gegensatz zu ‚kreolischen‘) Geschäftsleuten - mit dem Ziel, in den Kolonien so schnell wie möglich ein Vermögen zu erwerben, um als reicher Pensionär den Lebensabend in Frankreich zu verbringen.

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Die Comédie de Port-au-Prince wirkt als Magnet über die Antillenperle hinaus. Der Theaterbetrieb funktioniert als Aktiengesellschaft. Mesplés‘ Nachfolger auf dem Thron des Direktors wird Monsieur Acquaire, dessen Frau, die Sängerin und Schauspielerin Madame Acquaire, im Roman als Entdeckerin von Chauvets Heldin Minette eine besondere Rolle spielt.

Die Auftritte der stimmgewaltigen Tochter einer freigelassenen Sklavin verstoßen gegen koloniale Kastenregeln. Die Herkunft ist ihr Ansporn; Minette will alle Sklav:innen befreien. Das verrät sie ihrer - am Aufschwung beteiligten - Schwester Lise in der Nacht des ersten Triumphs, während die Urwaldgemeinschaften der Entlaufenden mit Trommeln und Schneckenhausposaunen ihre Ferngespräche führen.

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Die Autorin präsentiert Madame Acquaire als ‚Kreolin‘. Die Klassifizierung bezeichnet in diesem Kontext eine auf der Insel geborene Person. Mit Minettes Engagements setzt Madame Acquaire neue Maßstäbe, in dem bis dahin ausschließlich weißen Theater.  

Minettes Ehrgeiz sprengt Ketten. Als Sängerin perfektioniert sie sich im Handumdrehen. Für volkstümliche Klassiker:innenadaptionen hat sie wenig übrig. Minette schwört auf Racine, Corneille und Molière.  

Vorauseilend entschärfte Versionen helfen Minette, das Wesen der Zensur, und die Vernichtung subversiver Ladungen im Dialekt-Trallala zu begreifen

“I awoke one morning to find myself famous.” Lord Byron

Minettes Ruhm kommt über Nacht. Der aufgehende Stern wechselt auf die Seite der Bewunderten. Vor der Liebe, diesem „lästigen, vereinnahmenden Gefühl, will sich Minette hüten, und „ohne Reue die Komplimente … der Weißen entgegennehmen“.

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Zwar wird sie gefeiert, doch nach den stehenden Ovationen zu ihren Ehren bleibt Minette nur die Gesellschaft der Diskriminierten; während die weißen Theaterleute und das weiße Publikum in einem Ballsaal zusammenkommen.

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In einer Szene begrabscht ein Matrose den neuen Star von Port-au-Prince. Ein Reiter rettet Minette in Zorro-Manier. Der Übergriffige bleibt tot auf der Strecke. Umstehende erkennen in dem rigorosen Retter einen Boten der Zukunft. Minette begegnet ihrer großen Liebe: einem nichtweißen Sklav:innenhalter. Der exzentrische, in der Gegend von Arcahaie ansässige Plantagenbaron Jean-Baptiste Lapointe interessiert sich für die Emanzipation der Unterdrückten nur im Rahmen seines persönlichen Aufstiegswillens. Mit äußerster Vehemenz verschafft er sich Geltung. 

Aus der Ankündigung

»Eine ergreifende Geschichte über Hass und Angst, Liebe und Verlust und die komplexen Spannungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Ein Meisterwerk.« Boston Globe

Port-au-Prince 1792: Minette ist die Tochter einer freigelassenen Sklavin. Dank ihrer außergewöhnlichen Gesangsstimme darf sie als erste Farbige im Theater von Port-au-Prince auftreten. Auf den Zuschauerrängen sitzen die Kolonialherren. Sie sind durch die harte Arbeit ihrer Sklaven reich geworden und kopieren die Pariser Lebensart. Doch unter der Oberfläche brodelt es schon lange. Die Ausbeutung von Mensch und Natur schürt soziale und ethnische Spannungen. Minette verliebt sich in einen erfolgreichen Freigelassenen. Als sie jedoch bemerkt, dass er seine Sklaven genauso brutal behandelt wie die Weißen, bricht sie mit ihm und schließt sich einer Untergrundorganisation an.

Wie schon in «Töchter Haitis» besticht Vieux-Chauvets Erzählkunst durch die lebensnahe Figurenzeichnung. Zudem ist «Tanz auf dem Vulkan» eine historische Tiefenlotung, die uns Geschichte und Gegenwart des Karibikstaates erschließt.

Zur Autorin

Marie Vieux-Chauvet (1916–1973) wurde in Port-au-Prince in Haiti geboren. Ihr Vater war haitianischer Politiker, die Mutter stammte von den ehemals spanischen, seit 1898 zu den Vereinigten Staaten gehörigen Jungferninseln. Sie besuchte die l‘Annexe de l‘École Normale d'Institutrices und machte 1933 ihren Abschluss als Grundschullehrerin. Kurz darauf heiratete sie Aymon Charlier, einen Arzt, ließ sich aber vier Jahre später scheiden. Ihren zweiten Mann, Pierre Chauvet, heiratete sie 1942. Ab 1947 trat sie als Theaterautorin in Erscheinung. Ihr erster Roman «Fille d'Haïti» erschien 1954 und wurde mit dem Prix de l'Alliance Française ausgezeichnet. Es folgten die Romane «La Danse sur le Volcan» (1957) und «Fonds des Nègres» (1960), für letzteren wurde sie mit dem Prix France-Antilles geehrt. Als François Duvalier Präsident wurde und sich als Papa Doc zum Diktator aufschwang, bedeutete das für sie massive Einschränkungen. Sie war einziges weibliches Mitglied in der haitianischen Autorenvereinigung «Les Araignées du Soir» («Die Spinnen des Abends»). Die «Trilogie Amour, Colère, Folie» (1969) erschien auf Fürsprache Simone de Beauvoirs. Aus Angst vor Repressalien kaufte ihr Mann alle in Haiti befindlichen Exemplare auf. Schließlich musste sie ins US-amerikanische Exil gehen und lebte bis zu ihrem Tod in New York. Dort schrieb sie auch ihren letzten Roman, «Les Rapaces», der 1971 erschien.