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2018-12-09 07:07:33, Jamal Tuschick

Frei nach Brecht - Flüchtlingsgespräche in den Zeiten von Lageso - Nicole König und Wolfgang Thies führten 2015 vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) Gespräche mit Geflüchteten aus Syrien und dem Irak.

Diskrete Kameraführung

Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ´Ausnahmezustand´, in dem wir leben, die Regel ist. Walter Benjamin

„Flüchtlingsgespräche“ - Der Filmtitel zitiert einen Buchtitel. „Der Pass“, so heißt es in einem fragmentarischen Ertrag des Brecht’schen Nachlasses, „ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“

Den Sprecher ergänzt ein Brechter Estragon in Übereinstimmung: „Man kann sagen, der Mensch ist nur der mechanische Halter eines Passes. Der Pass wird ihm in die Brusttasche gesteckt wie die Aktienpakete in das Safe gesteckt werden, das an und für sich keinen Wert hat, aber Wertgegenstände enthält.“

Das Fragment eines Flüchtlingsgesprächs in den 1940er Jahren liefert einer aktuellen Reaktion mit den Mitteln der Dokumentation und des Essays den Betrachtungsrahmen.

Frei nach Brecht - Flüchtlingsgespräche in den Zeiten von Lageso

Nicole König und Wolfgang Thies führten 2015 vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) Gespräche mit Geflüchteten aus Syrien und dem Irak. Eine diskrete Kameraführung bewahrte die Hilfesuchenden und ihre zurückgebliebenen Angehörigen vor allen möglichen Schikanen. Die Leute äußerten sich offenherzig. Sie beklagten Missstände noch mit dem Selbstverständnis geprellter Bürger.

Ihre Registrierung war auch ein organisatorisches Desaster. Das Chaos scheint durch.

Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Walter Benjamin

Der Film nimmt nicht nur Brecht, sondern auch Walter Benjamin in Anspruch, der 1940 seinen Begriff von der Geschichte in einem ganz anderen Exilverlauf definierte als Brecht; den er zitiert. Benjamin erklärt den Ausnahmezustand zur Regel. Auf dem Sockel nicht zuletzt seines Schicksals entstand das deutsche Asylrecht als grandiose Geste, die unter dem ersten Bewährungsdruck Anfang der 1990er Jahre wegsackte und absank. Nun stinkt das Sühnezeichen zum Himmel.

Heiner Müller sagt, solange Shakespeare unsere Stücke schreibt, sind wir nicht in der Gegenwart angekommen. So kann man auch den Film von Nicole König sehen. Solange Brecht und Benjamin uns die Flüchtlingslage erklären (können), haben wir nicht verstanden, was los ist.