„Ihr Leben lang hatten sie ihren Unmut verheimlicht, so fiel es ihnen nicht schwer, ihren Gegnern mit gelassener Miene entgegenzutreten, während sie zugleich einen Schlachtplan entwarfen.“ Marie Vieux-Chauvet
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“Pain is temporary. It may last a minute, or an hour, or a day, or a year, but eventually it will subside and something else will take its place.” Lance Armstrong
Ende einer Ära
Am langen Ende des Industriezeitalters verödet auch jene Kleinstadt im New Yorker Dunstkreis, die Richard Russo zum Schauplatz seines 1986 erschienenen Romandebüts machte. In Mohawk sicherte die Lederindustrie bis zum Zweiten Weltkrieg das Auskommen vieler Arbeiter:innenfamilien. Die Eingesessenen arrangieren sich mit dem in den 1940er Jahren einsetzenden Niedergang. Sie schnallen die Gürtel enger, entschlossen die Marathondurststrecke durchzustehen. Ihr Verhalten variiert das Boiling Frog Syndrom. Sie passen sich an und harren aus.
Fatalistisch beobachten Russos ausgelaugte Held:innen Phänomene sozialen Siechtums in ihren Familien so wie in der Nachbarschaft.
Nicht wenige leiden und sterben schließlich an einem Lungenemphysem. Die Deklassierten akzeptieren das niederschmetternde Programm einer kantig gefügten Daseinsweise.
Richard Russo, „Mohawk“, Roman, übersetzt von Monika Köpfer, Dumont, 26,-
Der Krebs grassiert unter den Bürger:innen von Mohawk. Auch Mather Grouse geht an der Standardkrankheit zugrunde - im Takt eines kümmerlichen Gesellschaftsrhythmus. Sonntagvormittags verweigert Mather den Kirchgang und genießt ein „religiöses Nickerchen“ in der stillen Wohnung. Die berufliche Laufbahn des Invaliden lässt sich als verzerrter Stillstand beschreiben. Mather quält die Vorstellung, seine Tochter Anne könne sich mit jener Dürftigkeit abfinden, die ihr vorgelebt wurde.
Ein weiterer Akteur erscheint als „mondsüchtiger Junge“ auch noch als er längst erwachsen ist. Bill Gaffney, genannt Wild Bill, irrlichtet durch Mohawk. Ein anonymer Gönner garantiert ihm das Überlebensminimum.
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In „Keine Angst vor der Freiheit“ erzählt Paul Mason von seinem Vater, einem Mann, der in seinem Milieu keine herausragende Stellung einnahm und mit der Kumpel-Akzeptanz über die Runden kam, die sich die Bergarbeiter im englischen Leigh gegenseitig einräumten. Die Leute hielten eine Gemeinschaft in Gang, die sich zwischen Gruben, Kneipen und Vereinen zu behaupten wusste. Die Gruppenidentität wirkte wie ein Ausschlussverfahren, dass alle distanzierte, die als Verderber:innen des Gemeinwesens wahrgenommen wurden.
In diesem Rahmen vollzieht sich das biografische Geschehen in Russos erstem Roman. Die Nachbar:innen verbindet ein starkes Zugehörigkeitsgefühl. Ihnen fehlt das Gespür für die Gefahr, die ihnen droht. Michel Foucault charakterisierte die reitenden Boten des Neoliberalismus als Industriezerstörer:innen.
Eine strategische Spaltung der Arbeiter:innenklasse in Traditionalisten und Abtrünnige dient in erster Linie einer Schwächung der Gewerkschaften. Fortan ist jede „Unternehmerin ihrer selbst“ (umgeschriebener Foucault).
Russos Personal steht der Habitatsverlust durch Verslumung noch bevor. Es befindet sich in prä-prekären Stadien.
US-Kitchen Sink Realism
Der Autor wählte einen realen Ort. Die Gemeinde Mohawk erlangte Prominenz, weil George Washington da einmal zu Mittag aß - und zwar in der heute noch rund um die Uhr geöffneten Shoemaker Tavern. Sie liegt im Herkimer County, so genannt nach dem deutschstämmigen, im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg aktiven Milizgeneral Nicholas Herkimer. Es waren Kurpfälzer:innen, die sich im frühen 18. Jahrhundert am Mohawk River im Siedlungsgebiet einer First-Nation-Konföderation niederließen. Das Dorf Mohawk grenzt an German Flatts.
Russos Akteure ignorieren den historischen Rahmen ihrer Existenz. Die Geschichte erschöpft sich in einer entzauberten Gegenwart. Reverenzen liefern der Zweiten Weltkrieg und der Koreakrieg. Die ausgehenden 1960er Jahren betiteln den Ereignishorizont.
Russos Abgesang auf ein haltloses Gemeinwesen (eine abrutschende Gemeinschaft) erinnert mit seinen kleinstädtischen Mustern und Little Town Blues-Motiven an den minimalistischen Furor der Angries um John Osborne, Alan Sillitoe - und Shelagh Delaney. Die Autorin führte ein exemplarisches Leben im Epizentrum und zu der Hochzeit des Kitchen Sink Realism - dem Bonjour Tristesse des britischen Non-Establishments der konkreten Nachkriegszeit.
Aus der Ankündigung
Mohawk, eine Kleinstadt in Upstate New York, verdankte ihren Aufstieg einst der Lederindustrie und hat später teuer dafür bezahlt: Die Krebsrate ist hier um ein Vielfaches höher als im Rest Amerikas, das Leder nicht mehr gefragt, die Stadt vergessen. Es sind die späten Sechziger, doch die wenigsten Menschen haben teil an den großen Veränderungen dieser Zeit. Wer hier lebt, hat keine extravaganten Träume, sondern will einfach nur das Beste für die Familie und eine anständige Arbeit. Anne Grouse geht es ähnlich. Und auch wenn sie mal andere Pläne hatte – mittlerweile sieht sie sich an die Stadt gefesselt. Nicht nur befindet sie sich in einem aussichtslosen Kampf mit ihrer Mutter um die Pflege ihres kranken Vaters, sie muss sich auch um ihren Sohn Randall kümmern, der Schwierigkeiten in der Schule hat. Zu allem Überfluss droht außerdem die Fehde zwischen ihrer Familie und den mächtigen Gaffneys wieder aufzuleben. Von ihrem Ex-Mann, einem leidenschaftlichen Zocker, kann sie keine besondere Unterstützung erwarten. Heimlich träumt sie vom Mann ihrer Cousine, aber Träume kann man sich in Mohawk kaum leisten. Richard Russo hat mit seinem Debütroman ›Mohawk‹ ein Porträt der amerikanischen Kleinstadt und eine kluge Gesellschaftsanalyse vorgelegt: scharf beobachtet, voller Empathie und Humor.
Zum Autor
Richard Russo, 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für ›Diese gottverdammten Träume‹ (DuMont 2016) erhielt er 2002 den Pulitzer-Preis. Bei DuMont erschienen außerdem ›Diese alte Sehnsucht‹ (2010), ›Ein grundzufriedener Mann‹ und ›Ein Mann der Tat‹ (beide 2017), sowie der Erzählband ›Immergleiche Wege‹ (2018), der SPIEGEL-Bestseller ›Jenseits der Erwartungen‹ (2020), ›Sh*tshow‹ (2020) und zuletzt ›Mittelalte Männer‹ (2021).