„Wie der Tod die Voraussetzung für die biologische Evolution ist, so ist stetes Verschwinden von Produkten und Strukturen die Voraussetzung für Fortschritt.“ Hans Widmer in der NZZ
*
„Als Brecht den Physiker Leopold Infeld, ehemaliger Mitarbeiter Albert Einsteins, im Mai 1955 in Warschau traf, warnte ihn dieser: ‚Einstein ist nichts fürs Drama, er hat keinen Partner, mit wem wollen Sie ihn reden lassen?‘“
*
„Diese Zeit ist voller Dramen. Alle Widersprüche kommen zugespitzt zum Vorschein. Wenn das hier (der Zweite Weltkrieg) vorbei ist, werden wir mehr Material haben als Shakespeare.“ BB
*
„Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals.“ BB
*
„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist.“ Walter Benjamin
Morgue-Kälte
Der junge Brecht kultiviert Morgue-Kälte und entwickelt ein zynisches Repertoire. Der Todesnähe an der Front entgeht er in der Münchner Etappe als Medizinstudent. Er äußert sich antisemitisch und misogyn. Er zeugt ein Kind mit fehlgebildetem Anus. Ihm, dem die göttliche Kombination von Zeugungswerkzeugen und Ausscheidungsorganen ein Leben lang Kopfzerbrechen bereitet, widerfährt das Schicksal eines unkontrolliert scheißenden Sohns. Brechts Dasein vollzieht sich wie in einem Kabarett, in dem ein wahnsinniger Drehorgelspieler die Musik macht. 1922 kommt „Trommeln in der Nacht“ auf die Bühne. Herbert Ihering feiert Brecht „als die Stimme eines neuen Bewusstseins“. Karl Kraus sieht in dem Debütanten „den einzigen deutschen Autor, der heutzutage in Betracht zu kommen hat“.
Bertolt Brecht, „Unsere Hoffnung heute ist die Krise“, Interviews, herausgegeben von Noah Willumsen, Suhrkamp, 35,-
Erst jetzt ist Brecht Berlin gewachsen. Da will er Jiu-jitsu und Englisch lernen. Eine Abtreibung betreibt er aus der Ferne. Seine erste Ehefrau verliert er an Theo Lingen. Politisch ist das alles nicht. Es geht um Sex, Eifersucht und Erfolg.
Der revolutionäre Faktor
Brecht ist nun berühmt genug, um von den Nazis in eine öffentliche Fehde gezogen zu werden. Es reicht nicht mehr, ein pessimistisches Menschenbild aus der Perspektive eines gesellschaftlich avancierten und seelisch verwilderten Halbbürgers von Schauspieler:innen darstellen zu lassen. Brecht, für den die Nahrungsaufnahme zu den Verpflichtungen gehört, muss Farbe bekennen. Er streicht sich leninistisch an, die Gralshüter des Marxismus wissen es besser.
Brechts revolutionäre Attitüde wendet sich früh und energisch gegen Hitler. Er ist stark im Dagegen und schwach im Dafür, soweit es um die Diktatur des Proletariats geht. Er setzt den Kommunismus zur Dynamisierung seiner dramatischen Arbeit ein. Manchmal spricht er wie ein Lehrer der Nation.
Brecht und sein engster Kreis sind Verdächtigungen von allen Seiten ausgesetzt. Die zweite Ehefrau, Helene Weigel (1900 - 1971), erscheint für eine Rolle zu ‚jüdisch‘, Nebenfrau Margarete Steffin (1908 - 1941) „kann in Berlin nicht spielen, weil sie Kommunistin ist und in Moskau nicht, weil sie Jüdin ist“.
Während deutsche Exilant:innen in Russland von sowjetischen Verhaftungswellen erfasst werden, erweitert Ruth Berlau den Hofstaat.
Nach dem Tod meiner Mitarbeiterin M.S.
Im neunten Jahr der Flucht vor Hitler
Erschöpft von den Reisen
Der Kälte und dem Hunger des winterlichen Finnland
Und dem Warten auf den Pass in einen anderen Kontinent
Starb unsere Genossin Steffin
In der roten Stadt Moskau.
Mein General ist gefallen
Mein Soldat ist gefallen
Mein Schüler ist weggegangen
Mein Lehrer ist weg
Mein Pflegling ist weg…
Seit du gestorben bist, kleine Lehrerin
Gehe ich blicklos herum, ruhelos
In einer grauen Welt staunend
Ohne Beschäftigung wie ein Entlassener.
Aus der Ankündigung
»Unsere Hoffnung heute ist die Krise« Interviews 1926-1956
Bertolt Brecht besaß die Gabe, wie ein Zeitgenosse einmal bemerkte, in einem »Gespräch mit präzisen, drastischen Formulierungen« zu brillieren. Wie bekämpft man die Dummheit? Ist deutsche Kultur möglich? Gehört George Orwell an die Wand gestellt? Egal welche Fragen man an Brecht hat: In diesem Buch findet man seine überraschenden Antworten. In 75 hier erstmals versammelten, größtenteils unbekannten Interviews, die sich über 15 Länder und eine ganze Karriere erstrecken, zeigt sich der große Klassiker der Moderne als wortmächtiger Medienkünstler. Sie rücken sein Werk nicht nur in ein neues Licht - sie bilden einen unkartierten Teil dieses Werkes selber.
Zum Autor
Bertolt Brecht wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren und starb am 14. August 1956 in Berlin. Von 1917 bis 1918 studierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München Naturwissenschaften, Medizin und Literatur. Sein Studium musste er allerdings bereits im Jahr 1918 unterbrechen, da er in einem Augsburger Lazarett als Sanitätssoldat eingesetzt wurde. Bereits während seines Studiums begann Brecht Theaterstücke zu schreiben. Ab 1922 arbeitete er als Dramaturg an den Münchener Kammerspielen. Von 1924 bis 1926 war er Regisseur an Max Reinhardts Deutschem Theater in Berlin. 1933 verließ Brecht mit seiner Familie und Freunden Berlin und flüchtete über Prag, Wien und Zürich nach Dänemark, später nach Schweden, Finnland und in die USA. Neben Dramen schrieb Brecht auch Beiträge für mehrere Emigrantenzeitschriften in Prag, Paris und Amsterdam. 1948 kehrte er aus dem Exil nach Berlin zurück, wo er bis zu seinem Tod als Autor und Regisseur tätig war.