Erdbeben von Kalabrien 1783
Am Donnerstag, den 13. November 1823 traf Johann Peter Eckermann Goethes langjährigen Kammerdiener vor Weimar auf der Straße nach Erfurt. Obwohl der Chronist den Namen verschweigt, kann kein Zweifel daran bestehen, dass Eckermann dem geschäftstüchtigen und umtriebigen, von Goethe mit Wohlwollen bedachten Christoph Sutor (1776 - 1795) begegnete. Der Erfurter Bäckersohn machte etwas aus sich und starb nobilitiert als Weimarer Ratsdeputierter.
„Als ich bei ihn kam, mochte er etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein; er war sehr mager, behände und zierlich, ich hätte ihn leicht tragen können.“
Eckermann beanspruchte Sutor als Gewährsperson für sein Idol. Der smarte Subalterne sollte ihm fix ein Porträt des Künstlers als junger Mann anfertigen. Sutor erinnerte den Herzog als ständigen Gast bei dem jungen Genie, das sich vor allem mit Naturforschung abgab.
„Einst klingelte er mitten in der Nacht, und als ich zu ihm in die Kammer trete … (sagte er:) ‚… wir sind in einem bedeutenden Moment; entweder wir haben in diesem Augenblick ein Erdbeben, oder wir bekommen eins.‘ … Und nun musste ich mich zu ihm aufs Bette setzen, und er demonstrierte mir, aus welchen Merkmalen er das abnehme.“
Wochen später kam die Nachricht vom Erdbeben von Kalabrien 1783. Goethe hatte es in Weimar diagnostiziert. Nach den Aufzeichnungen von Johann Peter Eckermann
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„Mittelmäßige ... verdienen nichts Besseres als Unsterblichkeit.“ Gary Shteyngart
Antiquierte Moderne
Brechts Kampf gegen den Faschismus macht ihn zur Jahrhundertfigur. Die amerikanische Journalistin Anne Hornemann deutet Brecht 1945 als Leitstern der Emigration:
„Eine künstlerische Flamme, die der Hitlerismus nicht ersticken konnte.“
Alle Interviews, die Brecht in Amerika gibt, belegen, dass er seine künstlerische Zukunft in Europa vermutet und eben nicht in den Vereinigten Staaten. Die Kulturindustrie sitzt ihm im Nacken. Das äußert sich in seiner Kritik an den Kassenschlagern:
„Kommerzielle … Broadway-Stücke sind, wenn sie ernst sind, weniger amerikanisch - eher eine Imitation importierter europäischer Antiquitäten und nicht sehr originell.“
Brecht rät zur List. „Probleme sind zum Lösen da“, sagt er. Mich erinnern seine Tipps an Adornos Fürsorglichkeit gegenüber dem jungen Hans Magnus Enzensberger. Der gescheite Debütant erkennt in Adorno auch eine Stil-Ikone. Er lernt, wie man mobilisiert, ohne sich gemein zu machen. Adorno empfiehlt dem Spund als Richtschnur den „Brecht‘schen Begriff des Umfunktionierens“. Er dürfe sich den Massenmedien nicht mit kulturindustriekritischen Argumenten entziehen. Degoutant sei es, sich „auf handgeschöpften Bütten tummeln (zu) wollen“. Zitate aus dem Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Hans Magnus Enzensberger von 1955 bis 1966
Bertolt Brecht, „Unsere Hoffnung heute ist die Krise“, Interviews, herausgegeben von Noah Willumsen, Suhrkamp, 35,-
Gleichzeitig kanzelt Adorno Brechts artistischen Durchhaltewillen ab. Für Brecht gilt allemal, was er im Zusammenhang mit Sartre feststellt: „Die Komplexion von handfestem Plot … und destillierbarer Idee (trägt) Sartre den großen Erfolg zu und (macht) ihn, ganz gewiss gegen seinen integren Willen, der Kulturindustrie akzeptabel.“ Sartre suggeriere, „dass auf den sozialen Kommandohöhen noch Leben sei“. Er verwebe „den Schleier der Personalisierung“ mit der Geschichte zur Beruhigung seines Publikums.
Das ist Brecht in der Nussschale. Adorno differenziert, das heißt, er holt aus. Brecht entzöge sein theatralisches Personal der Sphäre illusionärer Irritationen von Identität und Individualität und reduziere es auf der Bühne in einer Presse sozialer Prozesse, bis von der „absoluten Souveränität des Subjekts“ nichts übrigbleibe.
Das ist die vorbereitende Gegenbewegung (Preparatory Counter Movement). Der Niederschlag erfolgt sogleich:
„Die Lächerlichkeit, der Ui überantwortet wird“, appelliere an jenen vom impotenten Distinktionshochmut erheischten, schon insofern matten Heiterkeitserfolg, den man erzielt, wenn man Hitler einen Anstreicher nennt, wobei „das Wort Anstreicher ... aufs bürgerliche Klassenbewusstsein peinlich spekuliert“. Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
»Unsere Hoffnung heute ist die Krise« Interviews 1926-1956
Bertolt Brecht besaß die Gabe, wie ein Zeitgenosse einmal bemerkte, in einem »Gespräch mit präzisen, drastischen Formulierungen« zu brillieren. Wie bekämpft man die Dummheit? Ist deutsche Kultur möglich? Gehört George Orwell an die Wand gestellt? Egal welche Fragen man an Brecht hat: In diesem Buch findet man seine überraschenden Antworten. In 75 hier erstmals versammelten, größtenteils unbekannten Interviews, die sich über 15 Länder und eine ganze Karriere erstrecken, zeigt sich der große Klassiker der Moderne als wortmächtiger Medienkünstler. Sie rücken sein Werk nicht nur in ein neues Licht - sie bilden einen unkartierten Teil dieses Werkes selber.
Zum Autor
Bertolt Brecht wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren und starb am 14. August 1956 in Berlin. Von 1917 bis 1918 studierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München Naturwissenschaften, Medizin und Literatur. Sein Studium musste er allerdings bereits im Jahr 1918 unterbrechen, da er in einem Augsburger Lazarett als Sanitätssoldat eingesetzt wurde. Bereits während seines Studiums begann Brecht Theaterstücke zu schreiben. Ab 1922 arbeitete er als Dramaturg an den Münchener Kammerspielen. Von 1924 bis 1926 war er Regisseur an Max Reinhardts Deutschem Theater in Berlin. 1933 verließ Brecht mit seiner Familie und Freunden Berlin und flüchtete über Prag, Wien und Zürich nach Dänemark, später nach Schweden, Finnland und in die USA. Neben Dramen schrieb Brecht auch Beiträge für mehrere Emigrantenzeitschriften in Prag, Paris und Amsterdam. 1948 kehrte er aus dem Exil nach Berlin zurück, wo er bis zu seinem Tod als Autor und Regisseur tätig war.