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2023-08-19 08:27:50, Jamal

Geometrische Sprache

„Brechts Kunst nagelt die Realität mit einer geometrischen Sprache fest.“ Vito Pandolfi 1947

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„Bertolt Brecht und Caspar Neher haben einen ganz eigenen Darstellungsstil geschaffen, dessen Hauptmerkmal im Verzicht auf Illusionswirkung besteht. Es soll nichts vorgetäuscht werden.“ Walter Becherer 1948

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„Das … (sowjetische) Imperium verfügte über alle Zeitreserven Sibiriens. Und damit über Gedankenreserven: ein Panzerschrank des Seelenlebens. In den Bunkern des KGB sammelten sich die akademischen Eliten des Landes.“ Alexander Kluge/ Gerhard Richter, „Dezember“, Suhrkamp

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„Wir sind in den alten Theatern ebenso wenig am Platze wie Jack Dempsey bei einer Rauferei in einer Kneipe voll zur Geltung kommen kann. Da haut ihm einer einfach einen Stuhl über den Kopf + er ist k.o.“ Elisabeth Hauptmann in ihren Notizen zur Vorbereitung von Bertolt Brechts erstem Interview. Das Gespräch mit dem aufstrebenden Dramatiker sollte Frank Warschauer für die Literarische Welt führen. Es kam anders. Warschauer sagte ab. Für ihn sprang - am 30. Juli 1926 - Bernard Guillemin ein.

Panzerschrank des Seelenlebens

Getarnt als Adaption von John Gays Beggar’s Opera inszeniert Vito Pandolfi 1943 - ohne Brechts Textvorlage - die „Dreigroschenoper“ im faschistischen Italien. Die freihändige, surrealistisch angereicherte Fassung gilt als „das wichtigste Dokument des italienischen Widerstands“ (Alberto d‘Aversa). Der Premiere folgt Pandolfis Verhaftung. Der mutige Regisseur beherzigt Antonio Gramscis Generalvorgabe: „Die Eroberung der kulturellen Macht erfolgt vor der Übernahme der politischen Macht. Diese wird durch eine konzertierte Aktion intellektueller ‚organischer‘ Aufrufe erreicht. Sie infiltrieren jegliche Kommunikation, jede Ausdrucksform und die akademischen Medien.“

Bertolt Brecht, „Unsere Hoffnung heute ist die Krise“, Interviews, herausgegeben von Noah Willumsen, Suhrkamp, 35,-

Brecht selbst spielte die Bedeutung der Vorlage herunter und deutete die Anleihen auf John Gays und Johann Christoph Pepuschs 1728 in London uraufgeführte „Beggar’s Opera“ als PR-Trick. Er habe es den Kritiker:innen leicht machen wollen, das Stück zu loben, da dabei - wenigstens soweit es Gays und Pepusch betraf - niemand gelobt werden musste, der sich für das Lob noch was kaufen konnte.

Pandolfi betrachtet Brecht als Garanten seiner eigenen Utopie:

„Das Leben der Menschen (erscheint) als Aufstand des Unterbewusstseins … gegen die sozialen und natürlichen Fesseln, für die Freiheit, die nur der Kommunismus besiegeln kann.“ 

Agitation und dialektische Klarheit sind Schlüsselbegriffe. Das Gespräch findet im Februar 1948 in der Schweiz statt. Pandolfi beschreibt den Schauplatz der Begegnung mit seinem Idol als tristen Ort. Zweifellos übertrifft Pandolfis Dogmatismus den des abgeklärten Dramatikers. Ein feuriger junger Kommunist erklärt einen beinah schon alten Mann zum Fackelträger seiner Leidenschaft.

„Brechts Kunst nagelt die Realität mit einer geometrischen Sprache fest.“

„Jeglicher emotionaler Inhalt (wird) zu Demonstrationszwecken (genutzt).“

„Marxismus (ist die) letzte Stufe der Logik … (Brecht arbeitet) nur mit Analyse und Dialektik … die die Kraft der Vernunft sind.“

Der Angehimmelte gibt Antworten, die Pandolfi zufriedenstellen. Der Autor schildert das Treffen als Erweckungserlebnis mit initiierenden Momenten. Nicht zur Sprache kommt die Zwangslage, in der Brecht steckt. Die amerikanische Administration ist nicht bereit, ihm „ein Einreisevisum für ihre Besatzungszone auszustellen“. Brecht kriegt auch kein US-Wiedereinreisevisum.    

Der voreilige Friede der Deutschen mit sich selbst

Brecht sucht ein Theater, das sich von ihm zu „einer Werkstatt der Erkenntnis“ ausbauen lässt. Er spekuliert auf eine tragende Rolle im Kulturkampf der Systeme. Die in der sowjetisch besetzten Zone eingesetzten deutschen Kommunist:innen um Ulbricht, sind nicht alle von ihm begeistert.

Brecht spinnt sein Netz von der Schweiz aus. Max Frisch führt ihn herum, Brecht ärgert der Komfort einer Arbeitersiedlung - für ihn ein „verbesserter Slum“. Die Behörden unterstellen ihm kommunistische Agententätigkeit. Mit Peter Suhrkamp feilscht er um ein regelmäßiges Auskommen.

1949 ziehen Weigel und Brecht nach Ostberlin. Am Deutschen Theater inszenieren sie „Mutter Courage“. Weigel spielt, Brecht führt Regie. Man wirft dem Regisseur Dekadenz und Primitivismus vor und denunziert ihn als „Formalisten“. Brecht kriegt Ärger mit der Zensur.    

Aus der Ankündigung

»Unsere Hoffnung heute ist die Krise« Interviews 1926-1956

Bertolt Brecht besaß die Gabe, wie ein Zeitgenosse einmal bemerkte, in einem »Gespräch mit präzisen, drastischen Formulierungen« zu brillieren. Wie bekämpft man die Dummheit? Ist deutsche Kultur möglich? Gehört George Orwell an die Wand gestellt? Egal welche Fragen man an Brecht hat: In diesem Buch findet man seine überraschenden Antworten.  In 75 hier erstmals versammelten, größtenteils unbekannten Interviews, die sich über 15 Länder und eine ganze Karriere erstrecken, zeigt sich der große Klassiker der Moderne als wortmächtiger Medienkünstler. Sie rücken sein Werk nicht nur in ein neues Licht - sie bilden einen unkartierten Teil dieses Werkes selber.

Zum Autor

Bertolt Brecht wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren und starb am 14. August 1956 in Berlin. Von 1917 bis 1918 studierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München Naturwissenschaften, Medizin und Literatur. Sein Studium musste er allerdings bereits im Jahr 1918 unterbrechen, da er in einem Augsburger Lazarett als Sanitätssoldat eingesetzt wurde. Bereits während seines Studiums begann Brecht Theaterstücke zu schreiben. Ab 1922 arbeitete er als Dramaturg an den Münchener Kammerspielen. Von 1924 bis 1926 war er Regisseur an Max Reinhardts Deutschem Theater in Berlin. 1933 verließ Brecht mit seiner Familie und Freunden Berlin und flüchtete über Prag, Wien und Zürich nach Dänemark, später nach Schweden, Finnland und in die USA. Neben Dramen schrieb Brecht auch Beiträge für mehrere Emigrantenzeitschriften in Prag, Paris und Amsterdam. 1948 kehrte er aus dem Exil nach Berlin zurück, wo er bis zu seinem Tod als Autor und Regisseur tätig war.