Irgendwo sagt Heiner Müller, sobald der Ethnologie Genüge getan wurde, stirbt der erforschte Stamm aus. Auf einen ähnlichen Gedanken stoße ich in Angela Bubbas literarischem Essay „Alberto, Elsa und die Bombe“. Die Autorin zitiert Alberto Moravia so: „Ich entdecke, dass ich Mitglied einer Art bin … weil die Art bald aussterben wird.“
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Sehen Sie auch hier.
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„Eine jede neue Zeit ist … dunkel und widerwärtig.“ Bertolt Brecht
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„Der Einbruch des Lichts erfolgt in die allertiefste Dunkelheit.“ BB
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„Nach manchen Gesprächen mit Menschen hat man den Wunsch, einen Hund zu streicheln, einem Affen zuzulächeln und vor einem Elefanten den Hut zu ziehen.“ Maxim Gorki
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„Die meisten Schriftsteller (verstehen) von der Literatur nicht mehr … als die Vögel von … Ornithologie.“ Marcel Reich-Ranicki
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„In den Bunkern des KGB sammelten sich die akademischen Eliten des Landes.“ Alexander Kluge/ Gerhard Richter, „Dezember“, Suhrkamp
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„Früh sechs Uhr dreißig gehe ich die zerstörte Wilhelmstraße hinunter zur Reichskanzlei. Sozusagen meine Zigarre dort zu rauchen. Ein paar Arbeiter und Trümmerweiber. Die Trümmer machen mir weniger Eindruck als der Gedanke daran, was die Leute bei der Zertrümmerung der Stadt mitgemacht haben müssen.“ Bertolt Brecht am 10. Januar 1949 in Ostberlin
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„Wir saßen im Hotelzimmer in Berlin, in der Nähe des Pariser Platzes, gegenüber die Fensterlöcher verbrannter Häuser.“ Carl Linfert über eine Begegnung mit Brecht am 22. April 1949
Verlässliche Wunder
„Es gibt Schlimmeres (als Blut an den Händen)“, fand Harry Truman, nachdem er - unangenehm berührt - zum Zeugen eines seelischen Aufbruchs seines Chefatomphysikers Robert Oppenheimer geworden war. Seinem Kammerdiener (im Rang eines Staatssekretärs) Dean Acheson befahl er, ihm „dieses Individuum“ fortan vom Hals zu halten. Schließlich habe der Wissenschaftler lediglich das Ding gebaut. „Ich (Truman) habe sie explodieren lassen.“
Die Zitate stammen aus Angela Bubbas literarischem Essay „Alberto, Elsa und die Bombe“. Die Autorin schildert die Szene im Weißen Haus so phantasmagorisch-aufrauschend wie eine andere S. Kubrick.
Robert Oppenheimer plagen Skrupel, nachdem das Schlimmste geschehen ist. Er begreift sich als Weltenzerstörer. Eine Koryphäe nimmt ihn vom Kreuz und an den Haken der Analyse. Oppenheimer habe bloß eine Tür aufgemacht, als Hiwi im Dienst eines Anführers, dessen Bedenken im Mahlwerk der Entschlossenheit pulverisiert wurden. Im Übrigen seien Wissenschaftler in einem Hohlraum zwischen den soliden Kasten nicht gut aufgehoben.
„Nach manchen Gesprächen mit Menschen hat man den Wunsch, einen Hund zu streicheln, einem Affen zuzulächeln und vor einem Elefanten den Hut zu ziehen.“ Maxim Gorki
Um den Faden der Menschheitsgeschichte an einer anderen Stelle aufzunehmen: Der biblische Abraham verlässt seine Leute, heute würde man sagen, das sind Araber. Das heißt, Abraham gibt seine volkstümliche Identität auf und folgt dem Fingerzeig Gottes in ein anderes, für ihn zunächst namenloses Land. Der Selbstausschluss und die Gemeinschaftsverweigerung bilden das irdische Fundament der Existenz im Auge Gottes. Abraham definiert sich in der Exklusivität, die seinem Fortgang folgt. Er wählt, so Delphine Horvilleur, einen Transitbegriff für sich.
„In der Sprache der Bibel ist der Hebräer … der Überquerende.“
„Ein Hebräer hat kein namensgebendes Ursprungsland.“
Ihn kennzeichnet, seinen Geburtsort hinter sich gelassen zu haben.
„Sein Name bezeichnet eine geografische oder geistige Abkopplung. Odysseus stammt aus Ithaka und sehnt sich nach Heimkehr. Abraham hingegen stammt aus Ur und unternimmt alles … um nie wieder zurückzukehren.“
Die historisch-hebräische Identität ergibt sich nicht aus der Herkunft, sondern aus dem „Begehren eines Landes, in dem wir nicht geboren sind.“ Emmanuel Levinas
Horvilleur leitet daraus „die unmögliche Definition des Judentums“ als Zentralfigur des konzentrierten Denkens ab. Gilt das nicht für alle, die bereit sind, über ihre Küstengewässer hinauszufahren? Muss nicht jeder Mensch sein eigenes Land gewinnen? So wie ich mein Textland.
Die Zitate stammen aus Delphine Horvilleurs Essay „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“.
Streit in der Fruchtblase
„Und die Kinder stießen sich miteinander in ihrem Leib.“
Die Rede ist von Jakob und Esau. Die Zwillingsföten fetzen sich in utero. Sie tragen „territoriale und theologische Streitigkeiten“ in der Fruchtblase ihrer Mutter Rebekka aus.
Die Totalität einer vormodern formulierten Scheidung des „Judentums vom Götzendienst“ etabliert etwas Unvereinbares in brüderlicher Gegnerschaft. In seiner Unterlegenheit gelingt es Esau nicht, die ihm von den Vorvätern vorgeschriebene Rolle auszufüllen. Darin erkennt Horvilleur eine Marke auf dem Weg zum Antisemitismus. Zwei Generationen später gebiert die von den Patriarchen zurückgewiesene Timna „ein Kind der Ablehnung, einen aus Ächtung und Enttäuschung geborenen Sohn“. Amalek wächst zu einem König heran und herrscht über ein Volk, das seinen Namen trägt. Schließlich greift er die von Moses aus Ägypten geführten Kinder Israels an. Seither nennen jüdische Exegeten „besonders erbitterte Feinde“ Amalek. Die Genese des Antisemitismus beginnt mit diesem Enkel Esaus, von dem Haman abstammt, in dessen Gegenwart der Judenhass eine Normierung als historische Konstante erfährt. Haman erscheint als Gegenspieler einer Person, die einigermaßen unauffällig aufs Spielfeld kommt. Mordechai dient Xerxes als Pförtner. Die dem Concierge familiär verbundene Esther nimmt mit ihrem Liebreiz den persischen Herrscher ein. Das exponiert Mordechai zu dessen Nachteil. Besonders übel will ihm Haman. Da mit Mordechai im Buch Esther erstmals ein Akteur im biblischen Textland als Jude geschildert wird, und sich Hamans Hass nicht auf Mordechai als Individuum beschränkt, startet, so Horvilleur, exakt an dieser Stelle der Judenhass seinen Lauf.