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2023-09-16 10:20:31, Jamal

“Slow shifting of realities and distortion of the initial situation.” Janka Oertel

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Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier. Und hier.

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„Was auch immer wir tun. Die Zeit zerstört alles.“ Zain Khalid 

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„Die Vergangenheit ist eine Illusion, aber wir brauchen sie.“ Zain Khalid

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“There’s only one thing that counts. It’s who lives to write the verdict on the others.” Gore Vidal

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„[16. März 1857] Meine Familie väterlicherseits scheint mir keinesfalls aus Verwandten zu bestehen. Es sind gute Leute, die ich in einer Postkutsche kennengelernt haben könnte, aber es war falsch, mich mit ihnen zu verbinden.“ Journal des Goncourt 

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Kalte Kulturen beobachtet man in weitgehend herrschaftsfreien Gesellschaften, die so weit wie möglich von der industriezivilisatorischen Norm entfernt bestehen. Claude Lévi-Strauss fiel auf, dass stark vereinzelte Ethnien Systeme zur Vermeidung von Veränderungen vital halten. Um degradierende Bezeichnungen aus der Palette der „Primitiven Völker“ außer Kurs zu setzen, wählen Freund:innen einer gerechten Sprache den Begriff Kalte Kultur.

In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick

Phonetische Anführungszeichen

Siesta ist auch so ein Wort, das auf den Umwegen körperlicher Einbußen Eingang fand in das Lamento der Elisabeth ‚Betty‘ Steinbrecher.

Das Wort von den körperlichen Einbußen erinnert an die ärztlich-diskrete Sprechweise einer gelernten Sprechstundenhilfe mit höherer Schulbildung.

Erst zwangen körperliche Einbußen Betty zu immer längeren Pausen. Inzwischen unterbricht die Achtzigjährige nur noch selten die Ruhephasen. Tagsüber ist sie zu schwach für beinah jede Beschäftigung und nachts kann sie nicht schlafen. Als das Ohr seiner Oma weiß Navin über alle Nuancen Bescheid.

Betty rückt Siesta in phonetische Anführungszeichen. Sie deklassiert das ausländische Modewort mit einer abweisenden Betonung. Sie legt es in einem Fach des übertreibenden Sprechens ab. Nach ihren Begriffen hat Siesta im Wortschatz einer württembergisch assimilierten Badenerin nichts zu suchen. Die Herabsetzung birgt und verbirgt die schwäbische Kritik an einer mediterranen Praxis mit institutionellem Charakter. Sich in einem bürgerlichen Rahmen tagsüber liegend ausruhen zu dürfen, erklärt ausreichend, weshalb die Italiener:innen (für Betty ist Siesta ein Schlüsselbegriff des italienischen Schlendrians, Spanien hat sie überhaupt nicht auf dem Schirm), „die uns im Krieg im Stich gelassen haben und sowieso nicht richtig kämpfen können“, bisher auf keinen grünen Zweig gekommen sind. Im Tross der Vorurteile irrlichtet alles Mögliche von der deutschen Italiensehnsucht über den Wir-sind-wieder-wer-Italienurlaub mit der aufreibenden Anfahrt über den Brennerpass, kochenden Kühlern und flirrenden Hitze über der Po-Ebene, den Capri-Fischer:innen, bauchigen Lambrusco- und Chiantiflaschen mit den Wachsmanschetten der verrauchten Gemütlichkeit, bis zur vernichtenden Nachahmung von Spagetti Napoli als weichgekochtem Nudelmatsch mit roter Soße.    

Täglich schließt Navin die Kreuzworträtsellücken der Ahne am gravitätischen Schreibtisch im Großraumwohnzimmer. Stille könnte einen Moment der inneren Einkehr begünstigen. Doch brüllt der Maximalfernseher von morgens bis abends, während so gut wie keine Sendung Betty die seelisch so notwendige Zustimmung gestattet. Vertrauenswürdig erscheinen ihr nur autoritär auftretende Männer, die sie an die leitenden Herren ihrer Jugend erinnern. Dazu gehörte der verstorbene Bernhard Grzimek. Betty trauert Leuten nach, denen sie nie persönlich begegnet ist.

Sie kann sich das englische Wort für Außerirdische nicht merken. Der Enkel füllt die Kästchen mit den Buchstaben A-l-i-e-n. Navin zweifelt nicht an der Existenz von Aliens und Reptiloiden. In Vietnam wurde vor acht Jahren erst ein unterirdischer Urwald in einer zehn Kilometer großen und vierzig Stockwerke hohen Höhle entdeckt. Das Refugium beherbergt ein komplettes Ökosystem mit einem Fluss, Sandstränden, eigenen Wolken, einer teilautonomen Flora und Fauna und bis zu achtzig Meter hohen Stalagmiten. Zwei Karsttrichter (Doline) sorgen für Sonnenlicht. Fossiler Fledermausguano (Chiropterit) liefert Naturdünger.

Forscher:innen entdeckten da Amphibienarten und die Vu-Quang-Antilope. Für Navin passt das zu Berichten von amerikanischen Soldaten, die im vietnamesischen Dschungel aufrecht auf zwei Beinen gehende Echsen gesehen haben wollen.

Die Sơn-Đoòng-Höhle liegt im Nationalpark Phong Nha-Kẻ Bàng nahe der Grenze zu Laos. Durch die gläserne Terrassentür tritt Navin ins Freie. Er prallt gegen eine Hitzewand. Seine Tante winkt ihn heran. Veronika Yıldız streckt sich neben der Jauchegrube unter einem vom Neffen aufgestellten Sonnenschirm auf einer Matte, die sich ihr und ihrem Mann Tayfun beim letzten Elsass-Trip im Soufflenheimer Leclerc-Supermarché aufgedrängt hat. Plötzlich lag das Ding im Einkaufswagen.