In weniger als einem Leben
“The most common way people give up their power is by thinking they don’t have any.” Alice Walker
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„Wegen schlechter Bedienung konnte nur wenig Bier getrunken werden.“ Eduard von Keyserling in einem Brief
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„Noch vor wenigen Jahren … waren wir froh, wenn wir ein Fahrrad besaßen. Jetzt sitzen wir in Privatjets. Von dort hierher in weniger als einem Leben - das ist unbegreiflich.“ Desmond Shum
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„Hochzeiten sind Suff und Heiligkeit, Schweiß unterm Kleid, Buttercreme im Mund.“ Leslie Jameson
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„Wenig hat sich geändert, aber nichts (ist) mehr, wie es war.“ Jürgen Becker
In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick
Restauriertes Milchhäuschen und zuverlässige Erregung
In Gedanken vergleicht Tayfun Yıldız seine im Augenblick abwesende Frau Veronika mit der - wie aus einer Frischhaltefolie geschlagenen, atemberaubend zierlichen - Importbraut eines Kollegen, dem er landsmannschaftlich verbunden ist. Ben bir türküm. Das Türkischsein spielt eine Rolle, wenn es darum geht, eine Position zu stärken und Front zu machen gegen den - vorsichtshalber Freund genannten - Fressfeind.
Die kardiologische Kapazität Tayfun lebt rasend gern im nordbadisch-württembergischen Grenzland zwischen Pforzheim und Mühlacker. Der gebürtige Istanbuler findet spießig geil. Deutsche Provinz, deutsche Autos, deutsches Bier; das Glück im Winkel der Reihenhaushälfte mit Jägerzaun und schmiedeeiserner Glockenleuchte über der Haustür. My Home is my Castle.
Das restaurierte Milchhäuschen. Die Wiederbelebung dörflicher Gemeinschaftsbacktraditionen. Wochenmärkte und Hofläden. Gelangweilte Hausfrauen in Hotpants vor antiken Eiscafés. Tayfun erregt es zuverlässig, in seinem 1963er Porsche 901 (ab 1964 911) die Landstraße direkt unter dem Bodenblech zu spüren. Von dem Oldtimer (mit einem luftgekühlten Sechszylinder-Boxermotor) wurden bis zur Umbenennung lediglich zweiundachtzig Exemplare verkauft. Wer weiß sowas überhaupt noch?
Made in Germany war ursprünglich eine herabsetzende Zuschreibung. Demnächst könnte das wieder zutreffen. In diesem Land klappt nichts mehr wie am Schnürchen. Alles hakt und klemmt und erodiert. Die Preise explodieren. Tayfun denkt jetzt lieber nicht an sein fünfundzwanzig Meter langes Gartenschwimmbecken, in dem sich vor allem Navin, der unverschämt gutaussehende Cousin seiner Ziehtochter Alissa, kurz Issa, fit hält und abkühlt. Zurzeit kommt Navin jeden Tag auf seinem Rennrad und krault, wie ein Weltmeister wenigstens zweitausend Meter weg, während der Hausherr sich in seiner eigenen Klinik krummlegt, um gut dazustehen. Tayfun betrachtet Navin als gefährlichsten Gegner in der Nahkampfzone.
Dass Veronika, Issa und Navin längst die „Reifeprüfung“ auf Schwäbisch nachspielen, ahnt er aber nicht.
„Die Reifeprüfung … erzählt, wie (ein) College-Absolvent … nacheinander zwei verbotene Beziehungen eingeht: zunächst die zu einer verheirateten Frau, dann die zu ihrer Tochter.“ Quelle
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Die Stehparty auf der Terrasse und im Garten der Bürgermeisterin von Ö… zieht sich nicht unangenehm in die Länge. Tayfun peilt und sondiert. Es wird Zeit, sich wieder irgendwo einzumischen, ein Gespräch an sich zu reißen und die eigene hinterhältige Schlagfertigkeit unter Beweis zu stellen.
Tayfun entscheidet sich für die Störung einer aus allseits bekannten Paaren zusammengesetzten Vierergruppe. In beiden Konstellationen ist sie halb so alt wie er. Gatte 1 definiert die Knitterjacke und eine furios-schlohweiße Sturmfrisur. Ein Hagestolz, der seinen Schnitt beim Daimler in Untertürkheim als Ingenieur mit eigenen Patenten gemacht hat. Seine Frau beweist im Strickmini die Vorzüge einer gesunden Lebensweise. Freihändig und wohlwollend assoziiert Tayfun Bildungsreisen und Bücherclub. Kinderlosigkeit als mühsam retuschierter Makel. Die Töchter der Nichte werden als Enkelinnen vorführt. Dies ohne eine direkte Lüge.
So tun als ob, genauso wie alle anderen auch.
Gatte 2 wirkt sämig-verbraucht und vorsichtig indifferent, während Gattin 2 noch kregel sich an allem beteiligt. In Heidelberg war er Dekan eines philologischen Fachbereichs.
Tayfuns Verachtung für weiche Wissenschaften meldet sich wie aus einem Kofferraum so dumpf. Falls man bei Sprachen überhaupt von Wissenschaft reden sollte. Erst im Gegenlicht eines inkriminierenden TV-Berichts über eine klassische Academia-Konstellation - die in ihren Professor verliebte Studierende/der von einer Studierenden affizierte, den pädagogischen Eros überstrapazierende Professor - fiel Tayfun vor ein paar Tagen auf, dass diese Variante nicht nur einem literarischen, sondern darüber hinaus auch einem gesellschaftlichen Genre entspricht.
Kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag konstatiert der emeritierte Gelehrte eher klinisch noch als stoisch unerwartete Emanationen der Selbstentfremdung. Der Mix aus distanziertem Duktus und hedonistischen Prisen erinnert erkennungsmelodisch an jüngere Ausgaben des Akteurs; und so auch an den akademischen Zampano, dessen Vorlesungen Kult waren. Jenem zu eigen war die Leichtigkeit des Seins (gepaart mit erotischer Lässigkeit) in einem Affären-Marathon unter den Vorzeichen einer durchgehaltenen Ehe, die mit dem Unfalltod der Gattin beinah dreißig Jahre nach Vertragsschluss gerade noch rechtzeitig für die in den letzten Zügen liegende Jugendlichkeit der Nachfolgerin endete.
Das Abenteuer des Altwerdens lässt keinen kalt. Verluste und Krisen bilden verblüffende Muster. Selbstverständlich ist dem Quartett Professor Yıldız (das stimmlose ı stimmhaft gesprochen) ein Begriff. Es gibt keinen zweiten Türken mit eigener Klinik weit und breit. Und dann ist das noch nicht einmal eine Schönheitsfarm.