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2023-09-23 11:52:49, Jamal

Vierundzwanzig Stunden bis zum Faustrecht/Vom Entzücken erleuchtet

Claude Monet nutzte ein Atelierboot. Er machte Szenen zu Sujets mit ungewöhnlicher Perspektive und Motiv-Beinah-Wiederholungen. Er arbeitete mit kleinen Abweichungen, wechselnden Tages- und Jahreszeiten. Manchmal sieht man Temperaturschwankungen. Monets Ansatz war frenetisch; vom Entzücken erleuchtet. Der Maler feierte die bequeme Natur. Lange brauchte er, um seine Seerosen zu verstehen. Er war Atlantiker und nur unter anderem auch Rivierakünstler. In London liebte er den Nebel. 

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„Der Konkurrenzkampf der kulturellen Evolution drängt uns zu Werten, die in der jeweiligen Phase der Energiegewinnung am besten funktionieren.“ Ian Morris

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Menschliche Werte haben biologische Wurzel und genetische Anker. Sie sind Anpassungsprodukte. Werte entstehen in funktionaler Rivalität zu evolutionären Anforderungen. Morris unterscheidet drei Generallinien unserer Entwicklung - Freibeuter:innen - Landwirt:innen - Nutzer:innen fossiler Brennstoffe.

Margaret Atwood schätzt in ihrem Aufsatz „Wenn die Lichter ausgehen“, dass nach einem Energiekollaps kein Tag vergeht, bis das Regime der Straße die Herrschaft an sich gerissen haben wird.

Wenn die Gesellschaft entgleist und die Polizei nicht kommt … Atwood prophezeit Plünderungen schon im Vorlauf der Rückkehr zu archaischen Konstellationen. Landwirt:innen verteidigen ihr Land, solange sie können. Städter:innen vagabundieren sofort los und avancieren als Raubnomad:innen zu Antagonist:innen der Sesshaften.

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The fate of the overpowering enemy is to achieve a result with superpower, that you would otherwise only be able to achieve with idiots. Jamal Tuschick

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„Schreiben ist unmöglich, aber noch nicht unmöglich genug.“ Samuel Beckett

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„Was geht mich die Welt an. Ich esse ihre Bilder.“ Heiner Müller

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„Gott, wie ich meine eigenen Sachen hasse.“ Samuel Beckett

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„Kultur ist das nicht vererbbare Gedächtnis einer Gruppe.“ Boris Uspenskij/Jurij Lotman

In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick

Muskelmanie/Dezent üble Nachrede

Navin stromert seiner Oma hinterher über den Friedhof von Ö … Er wohnt einer Versammlung der Ahnen bei, soweit es die schwäbische Schmied-Dynastie der Scheufeles betrifft. Scheufeles wurden schon unter die Erde von Ö… gebracht, als es den Friedhof noch gar nicht gab. Der älteste Grabstein vor Ort erinnert an eine Generation dieser Familie, die bereits vor dreihundert Jahren zu den Alteingesessenen zählte. „Die ehemaligen Mittel, gleichartige dauernde Wesen durch lange Geschlechter zu erzielen“, so sagt es Nietzsche in den Spiegel seiner Zeit, „waren unveräußerlicher Grundbesitz und Verehrung der Älteren, die jung gewesen sein sollen als Götter und Heroen (als Ahnherrn der Menschheit)“. Da kein genetisches Programm diese Hochform reproduziert, müssen die Mittel ständig neu „ersonnen“ werden. Das kulturelle Gedächtnis (Maurice Halbwachs) greift ein. Der Begriff schaufelt biologistische Erklärungen in die Tonne der Kultur.  

„Mit jedem Greis, der stirbt, verbrennt eine Bibliothek.“ Amadou Hampâté Bâ

Elisabeth ‚Betty‘ Steinbrechers von Navin athletisch exekutierter Gießordnung folgt dem Kernfamilienprinzip. Gegossen werden in erster Linie die Eltern und Geschwister. Ihnen nach kommen die Schwestern und Tanten von Bettys Mutter Pauline. Deren Männer liegen zwar - abgesehen von den sonst wo unter die Erde gebrachten Weltkriegsteilnehmern - in den Gräbern von Bettys Tanten und Großtanten, haben aber kein eigenes Recht auf Beachtung. Oft starben sie so früh, dass sie für Betty Fremde blieben. Betty wuchs nicht zuletzt in einer Gemeinschaft evangelischer Witwen auf. Im besten Fall waren die im Schwestern- und Cousinen-Kranz verbundenen Solistinnen ihren verstorbenen Männern dankbar für Renten und Pensionen. Kein Mann wurde vermisst oder in ehrendem Andenken gehalten. Es grassierte die dezent-üble Nachrede.

Navin trainiert mit allem, was wenigstens einigermaßen schwer ist und so auch mit den Friedhofskannen. Er pumpt mit stupider Ausdauer, während Betty ihre Schwätzchen hält.

Konkrete Versorgungsreichweite

Navin hat ein Schwarzenegger-Poster im Reiterstübchen an eine Wand gepappt; selbstverständlich in Absprache mit seinem Großvater Anton Steinbrecher.

Bodybuilding ist allgemein verschrien. Über Arnold Schwarzenegger machen sich die Leute lustig. Sie halten ihn für dumm. Er ist aber präsent. Seine Schauposen werden spotteifrig nachgeahmt. Dies geschieht in einem ansonsten kraftverherrlichenden Milieu. In der männlichen Dimension des Dorfes dreht sich viel um Schlagkraft und Kraftfahrzeuge.

Schwarzeneggers amerikanische Karriere nimmt ihm sein Stigma nicht ab. Lauter Verlierer:innen sind nicht bereit, auch nur zehn Pfennige auf den Millionär zu setzen.

Betty und Anton setzen der Muskelmanie des Enkels nichts entgegen. Das alte Ehepaar vereint sich auch in dem Wissen und der Gewissheit, dass der Junge nicht ganz dicht ist, aber doch ein ganz Lieber. Tröstlich findet es die Vorstellung, Navin bis zum Schluss in konkreter Versorgungsreichweite zu haben.  

Westfälischer Blutsbruder

Trabantenhaft kreist Navin um Anton. Der Alte und sein Enkel existieren in einer Symbiose. Abgesehen von Betty gibt es nur zwei Personen, die Anton so nahekommen: die Lieblingstochter Veronika und der Blutsbruder Koloman Mons.

Veronika ist ihrem Vater mit Dreiundvierzig noch genauso ergeben wie der infantile Adoleszent Navin. Bis heute wagt es die promovierte Hausfrau nicht einmal heimlich, die ausgedachte Grandezza des kaum alphabetisierten Patriarchen lächerlich zu finden. Aberglaube verbietet es ihr, Dinge auch nur zu erwägen, die der väterlichen Macht und Magie einen Verlust zufügen könnten.

„Ole O‘Cangaceiro / Wir reiten Tag und Nacht / Und wir hören in den Stürmen / Wie die ganze Hölle lacht.“ Helmut Zacharias

Täglich schlingert Veronika über ein territoriales Minenfeld. Die permanententen Machtergreifungen des Vaters geben ihren Manövern immer noch die Richtung.

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Als Mädchen trug Veronika die Uniformen seiner Leidenschaften. Sie changierte in den niedlichen und den zünftigen Varianten.

Der Pflug von einem Mann, ewig in Breeches, wünschte sich die Tochter erbarmungslos tüchtig. Die schönste Steinbrecherin spielte den fehlenden Stammhalter. Mit Veronika ging Anton zum teuersten Ausstatter und ins beste Fachgeschäft. Stets bemühte sich die Eigentümer:innen persönlich um den hohen Besuch. Der gelernte Elektriker (und Selfmade-Millionär) Anton bläute dem Kind ein erfundenes Standesbewusstsein ein. Er nahm es mit, wenn einer seiner Pächter schlachtete. Die Bauern stießen mit Wein aus Flaschen ohne Etikette an. Eine genossenschaftliche Abfüllanlage stand neben der Raiffeisenstation.

Die Lagerfeuer- und Bratapfelabende. Kommunionen von Rauch und Nachttau … und dem brünstigen Gerede der Zureiter, Hoferben und selbstständigen Handwerkern, die um die sieben halbwüchsigen Steinbrecher-Schwestern mal mehr und mal weniger willkommen herumscharwenzelten, bevor die Jungakademiker des Enzkreises Witterung aufnahmen und die Werbung auf ein anderes Niveau hoben. Fast alle Töchter des westfälischen Sturkopfs Anton sind mit württembergischen Leistungsträgern der ersten Kategorie verheiratet. Nur Navins graustichige Mutter blieb ledig. Doris gibt Gymnastikkurse, die wenig einbringen. Auch sie verlässt sich auf den Alten, der ihr eine Wohnung über dem Stall auf der Koppel eingerichtet, Navin aber in seinem Haus untergebracht hat.

P.S.

Koloman kursiert als westfälischer Blutsbruder im Zentrum des Steinbrecher-Kosmos. Kolomans hugenottische Ahn:innen popularisierten den Tabakanbau in den deutschen Ländern.

Einst beschlossen Anton und Koloman, der Deutschen Freischar beizutreten. Sie kampierten am Oberuckersee. Sie entdeckten Eichenpfähle und Brückenjoche im sandigen Grund. Das waren Bruchstücke einer unterseeischen Brücke, auf der sich bedrängte Ritter zu einer Burginsel hin in Sicherheit gebracht hatten. Sie übernachteten in Wildscheunen des Grafen von Arnim-Boitzenburg. Sie hörten Hirsche röhren und lernten den Protest von Sumpfvögeln nach Arten zu unterscheiden.
In Mode waren Halswärmer aus Marderpelz, dafür gingen Anton und Koloman auf die Jagd. Koloman hielt Lachtauben, die an Sonn- und Feiertagen zum langen Ausschlafen unter sein Federbett krochen. Er lernte Schreibmaschinenmechaniker und kletterte an den Mauern wüster Kirchen, die im Dreißigjährigen Krieg gelitten und seither keinem Gottesdienst mehr Raum geboten hatten. Er machte sich fit für den Turm der Michaeliskirche, der auf fünfzig Meter Höhe von einem Turmfalkenpaar bewohnt wurde. Eines Tages stieg er in Geheimgängen zum Dachboden auf. Eines Tages fuhr er nach Frankfurt am Main. Er blieb da ledig.