Du bist das Ganze
„Karin Mölling hat mir von einem Element in unserem Erbgut erzählt. Das ist ein über fünf Millionen Jahre altes Virus. Das ist übergelaufen zu den Vorfahren von uns, als wir noch nicht Menschen waren. Es sitzt in uns und verteidigt uns immer noch wütend und träumend gegen Gefahren von Bakterien und Viren von vor fünf Millionen Jahren. Die Gegner unserer Vorfahren, die hier abgewehrt werden, gibt es längst nicht mehr. Wenn wir mit diesem Urvirus und Überläufer, der wie ein Hugenotte nach Preußen in unser Erbgut überlief, sprechen könnten, hätten wir vermutlich Zugang zu einem Universalimpfstoff.“ Alexander Kluge
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Der Neurobiologe Martin Korte bringt irgendwo das Beispiel von der Schlange, deren schöne Zeichnung übersehen würde von allen Leuten, die in Reichweite des Reptils über ihre Angst nicht hinauskommen.
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„Die Weisen sagen uns, dass das Muster des gesamten Universums … (deinem) Wesen eingeprägt ist … du bist das Ganze.“ Christopher Wallis
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“We are not human beings having a spiritual experience; we are spiritual beings having a human experience.” Pierre Teilhard de Chardin
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„Die drei Kräfte des Willens, des Wissens und des Handelns entfalten sich in genau dieser Reihenfolge.“ Christopher Wallis
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„Der Mensch weiß wohl um das Gute, auch wenn er es nicht tut.“ Hildegard von Bingen
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“There’s only a thin red line between the sane and the mad.” James Jones
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„Jenseits von Moskau waren Künstler eine Erfindung und Pferde real.“ Anton Tschechow
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The purposeful exploitation of an affect to load an uninteresting muscular work with feelings of pleasure. In the sense of: Thoughts drive physiological processes. Jamal Tuschick
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„(Altern) ist Informationsverlust.“ David A. Sinclair
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Im „Siegfried“ überliefert Jörg Schröder einen Früheuphemismus für die deutsche Niederlage im II. Weltkrieg. Das erste Wort für die bedingungslose Kapitulation war „Umbruch“. Man rechnete in den Einheiten vor und nach dem Umbruch.
Ca. 1990 © Jamal Tuschick
Evolutionäre Mechanik
Die ledige Dermatologin Yana Weyrauch zupft den verheirateten Kardiologen Tayfun Yıldız am Revers. In ihrer Eigenschaft als Lehrgangsleiterin der Arbeitsgemeinschaft Schusssicher hat die Dreißigjährige dem vital-virilen (obschon unfruchtbaren) Mitvierziger eben einen Jägerbrief ausgehändigt und ihm dabei nicht zum ersten Mal zu verstehen gegeben, wie entzückend sie den „Frischling“ findet. Tayfun ist feierlich zumute. Der gebührte Istanbuler wähnt sich auf einer Undercover-Expedition durch deutsche Labyrinthe. Er unterhält eine Reihe (aus seiner Perspektive) zwangloser Nebenbei-Verhältnisse.
Tayfun steht im Ruf eines hervorragenden Liebhabers.
Yana spielt sich als berufenste Repräsentantin des Jagd-ist-vornehmster-Naturschutz-Zeitgeistes auf, wenn es darum geht, die Öffentlichkeit einzuseifen. Unter der Hand und im Kreis der Spießgesell:innen verbreitert Yana die Allgemeinplätze der perversesten Lustschießer:innen. Ihre Waffenschwestern und -brüder haben in die lichten Wälder des Enzkreises sturmfreie Forstbuden gesetzt, sie brettern im Camouflage-Look mit ihren Utility Vehicles durch die Schonungen und schreiben alle auf, die es ihnen gleichtun, jedoch nicht zur Schwestern- und Bruderschaft gehören.
Yana räuspert sich. Was ist nicht alles praktizierter Artenschutz. Entscheidend bleibt die Verpflegung. Am Ende zählt bei jedem Lehrgang nur das Mittagessen. Der Caterer erscheint mit einem Blech Streusel-Kirsch. Yana ist Jagdhornbläserin und Hundeobfrau. Die Jagdhornläser:innen proben im Dorfgemeinschaftshaus von Ö… Da nutzte Yana ihren letzten Geburtstag, um in die Kindheit abzugleiten. Bald wird es für ihre Generation eine schicke Selbstverständlichkeit sein, Geburtstage auf den Hartplätzen der Heimatgemeinde zu begehen. Im Augenblick ist das noch Avantgarde mit Yana in der Pole-Position.
Die Jagdhornbläser:innen unterstützen Höhlenbrüter:innen mit Nistkästen. In jeder Brutsaison schwärmen sie mit den Kästen aus und kein Mensch, der nicht in Serres oder Corres zuhause ist oder da wenigstens Verwandtschaft hat, erfährt davon.
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Jagd ohne Hund ist Schund. Ein großer Hund gehört nicht in eine kleine Wohnung. Seit Yana sich gegen Zwingerhaltung ausgesprochen hat, geht ein Riss durch die Jagdgemeinde. Ein glühender Debattenkern dreht sich um die Frage, ob man für jeden Jagdzweck brauchbare Hunde selbst halten muss. Das harmlose Wort brauchbar ist zum Kampfbegriff geworden. Als Inbegriff der Unbrauchbarkeit hält der Gebirgsschweißhund im Niederwildrevier her.
Im letzten Jahr sind ein paar Heckenmeter am Hundeplatz gerodet worden, um Erntemaschinen eine Durchfahrt zu schaffen. Totholz soll die Lücke nun schließen. Ob das nicht eine Aufgabe für Tayfun sei? fragt Yana. Sie beschwört den Wert der Totholzhecke als Lebensraum.
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Yana liebt Tennen-Tanz, Country-Schwof, Square-Dance sowie Gene-Vincent-Ähnlichkeitswettbewerbe. Sommerliche Begehungen ihrer Lieblingsstreuobstwiese machen sie selig.
Sie keltert leidenschaftlich. Bis vor ein paar Jahrzehnten wurde Wein vor allem da getrunken, wo seine herkömmlichen Anbaugebiete liegen. Der Rest der Welt war ausgeschlossen. Heute trinken Leute rund um den Globus Weine, die vor ihren Haustüren auf Flaschen gezogen und mit Regionalmarketing aufgewertet werden. Diese lokale Universalisierung sah Walter Benjamin voraus.
Walt Disneys „Filme desavouieren … alle Erfahrung. Es lohnt sich in einer solchen Welt nicht, Erfahrungen zu haben“.
Zitate aus Alessandro Baricco, „Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur“
Amerikanische Soldaten, die als Besatzer in Italien auf den Geschmack von Wein gekommen und nach ihrer Rückkehr in Kalifornien Weinbauern geworden waren, veränderten das Antlitz der Welt. Sie widerlegten den Mythos von der einmaligen Großartigkeit romanischer Böden. Guten Grund gibt es wie Sand am Meer. Der kritische Punkt ist die Gärung. Die US-Winzerpioniere kompensierten ein klimatisches Manko mit klimaanlagentechnisch-kontrollierter Gärung.
„Eine technologische Revolution beseitigt urplötzlich die Privilegien der Kaste, die die Vormachtstellung in der Kunst innehatte.“
Yana Weyrauch punktet mit dem Beispiel für evolutionäre Mechanik, während die ozeanische Dimension des Sommers an Tayfuns Nerven zerrt. Seit Tagen gibt es keine Abkühlung. Schwankend zwischen familiärem Verantwortungsgefühl und einem stürmisch begrüßten Begehren zitiert Tayfun sich selbst zum Trost Tolstoi.
„Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich.“