„(In einer Notlage) geht es darum, das einzigartige menschliche Potential zu bezeugen, das darin besteht, eine persönliche Tragödie in einen Triumph zu verwandeln.“ Viktor Frankl, zitiert nach Christopher Wallis
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„Der Konkurrenzkampf der kulturellen Evolution drängt uns zu Werten, die in der jeweiligen Phase der Energiegewinnung am besten funktionieren“, sagt Ian Morris. Menschliche Werte haben biologische Wurzel und genetische Anker. Sie sind Anpassungsprodukte. Werte entstehen in funktionaler Rivalität zu evolutionären Anforderungen. Morris unterscheidet drei Generallinien unserer Entwicklung - Freibeuter:innen - Landwirt:innen - Nutzer:innen fossiler Brennstoffe. Margaret Atwood schätzt in ihrem Aufsatz „Wenn die Lichter ausgehen“, dass nach einem Energiekollaps kein Tag vergeht, bis das Regime der Straße die Herrschaft an sich gerissen haben wird.
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„Sicherheit ist ein trügerisches Konzept“, sagt Paul Bowles.
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„Heute träumte mir, ich sei eine kleine Erbse mitten im Atlantischen Ozean. Ich erhob mich aus den Wellen und sagte: Mit mir fängt die Landbildung an! Darauf zerschellte ich am afrikanischen Kontinent.“ Hans Jürgen von der Wense (1894 - 1966)
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„Poesie ist die willkürliche Produktion von Irrtümern.“ Anne Carson.
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„Heiraten heißt in den Krieg zu ziehen.“
So überliefert die Ethnologin Heike Behrend eine Ansicht der Tugen.
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„Für junge Paare (in der DDR) kommt zuerst das Kind, danach das Auto. Die Leute müssen acht Jahre auf ein Auto warten. Das ist das Bild der Zukunft.“
Lotringer: „Die sozialistische Utopie, verheiratet mit westlichem Konsum.“
Müller: „Das ist die gegenwärtige Aussicht - und eins meiner Schreibprobleme. Ich habe kein Interesse an dieser Art von Leben, und ich kann mich nicht dazu bringen, darüber zu schreiben.“
Heiner Müller im Gespräch mit Sylvère Lotringer 1981 - „Ich glaube an den Konflikt, sonst glaube ich an nichts“
Am Strand von Ahrenshoop 2021 © Jamal Tuschick
Im Flutlicht des magischen Frühlings Neunundsechzig
Ein Vorstadtsonntagvormittag im Flutlicht des magischen Frühlings Neunundsechzig. Die dahinplätschernden Routinen am Saum der Seligkeit enden je. Vom Anblick der neuen Nachbarin gedopt, legt Irmen Gerold eine (seinen Sohn Merlin) erschreckende Hilfsbereitschaft an den Tag. Dorothea G., eine so perfekt ins Bild passende Person, das sie eine Jeans für sich nicht passend findet, beobachtet die Szene am Küchenfenster. Vier Monate später vereint die erste bemannte Mondlandung die Welt vor den Bildschirmen. John Updike stellte den großen Menschheitsschritt (Neil Armstrong) ins Zentrum seines Rabbit-Romans Unter dem Astronautenmond.
Zeitlich sind wir vor den Horizont der Apollo 11-Mission. Das Personal bewegt sich auf den Start der Raumkapsel zu. Vater und Sohn haften an einem Homo-Faber-Weltbild. Die maschinelle Überwindung menschlicher Beschränkungen fasziniert sie. Die Wallfahrt zum Mond erleben sie als Hochamt.
Was beinah völlig in Ordnung zu sein scheint, ist in Wahrheit ein Desaster. Merlin flieht vor den elternhäuslichen Krisen zu den Wassersportfreunden M… 1904 e.V. Da lernt er vier der sieben Töchter des exzentrischen Selfmade-Millionärs Anton Steinbrecher kennen. Mit Veronika macht Merlin seine ersten sexuellen Erfahrungen. Als mit dem Privatklinikchef Tayfun Yıldız verheiratete Elitegattin wird die schönste Steinbrecherin 1990 seine Nachbarin.
Vierundzwanzig Jahre später
Das Uferrelief sieht wie ein Dschungelsaum am Amazonas aus. Schilf, Lilien, Wurzelstöcke, Stauden und Büsche verschlingen sich bis zur Verwirrung der Eindrücke. Merlin steuert einen Fluchtpunkt seiner Jugend an. Er befährt die Enz in einem Einbaum der Rosenheimer Faltbootwerft Klepper.
Bei niedrigem Wasserstand schießt Vegetation durch die Schlammdecke. Steht das Wasser hoch, zerreißt es das Ufer.
Das Kajak treibt ins Schilf der Bucht. Ein Schiefermassiv buckelt am Ufer. Der Volksmund nennt den natürlichen Hafen Kilians Becken. Kilian war ein irischer Missionar. Er organisierte Massentaufen, die aufgrund heiß diskutierter Formfehler Wiederholungen nach sich zogen.
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Merlin zieht einen Finger durch den Blütenstaub auf der Verandabrüstung, und die Erinnerungen stellen sich ein. Sein 1976 tödlich verunglückter Vater fing viel an und brachte wenig zu Ende. Die losen Enden seines Lebens möchte der Sohn zusammenfügen. Eine Hüpfburg, die Irmen einst unfertig in den Garten stellte, blieb so, während die winterharte Lebensbaumhecke ständig in Form gehalten wurde. Nesthocker Merlin unterscheidet den Lärm der Rasenmäher vom Lärm der Laubbläser.
Er riskiert einen Spannerblick über den Zaun. Den Garten der Yıldız dominiert ein Fünfundzwanzigmeterbecken. Es deklassiert die Planschpools der normalsterblich Bessergestellten.
Brotdosenbräsig
Bikininackt ruht Veronika Y. auf einer ergonomischen Gartenliege, während ihr Lieblingsneffe in perfektem Kraul Bahnen zieht. In einer Blitzphantasie sieht sie sich mit Navin am Tresen der Bahnhofsgaststätte von Mühlacker. Wegen der Eisenbahnknotenpunktfunktion und der amerikanischen Garnisonen überall im Land bricht da jedes Wochenende der Wahnsinn aus. Die Kneipe, von Insiderinnen das Loch genannt, ist eine als Geheimtipp gehandelte Drehscheibe für Eraserhead & World’s end Stimmungen à la David Lynch und Jim Jarmusch. To get lost in Mühlacker and find something interesting. Die lokalen Schluckspechte ignorieren den Übermut in ihrem Revier. Ihnen ist alles recht, solange die Spritpreise nicht steigen. Eisenbahner demonstrieren mit ihrer Brotdosenbräsigkeit gegen den Aufruhr.
Die GI‘s verbessern die Performance schwäbischer Rocker. Sie geben Nachhilfeunterricht in Lässigkeit.
Navin war noch nie im Loch. Er steht auf Fitness. Nach exakt zweitausend Metern entsteigt er dem Becken mit Bewegungen wie aus der Werbung. Wasser perlt auf den perfekt definierten Muskelreliefs des Siebzehnjährigen. Veronika richtet ihr erotisches Dauerfeuer auf ihn. Navin lässt sich nicht ablenken. Liegestütze. Klimmzüge. Situps. Die Klimmzüge an der nie funktionsgerecht genutzten Teppichstange.
Navin absolviert sein Programm so gewissenhaft, als stünde er unter der Aufsicht einer Bundestrainerin. Später kanalisiert er das Interesse der promovierten Archäologin. Für die Schule braucht er eine Kurzfassung zum Stichwort Pompeji.
Die vom Schlamm eines Vesuvausbruchs im Jahr 79 unserer Zeitrechnung konservierte Stadt Pompeji entwickelte sich aus einem Weiler, den der Bruch von Artefakten bezeugt. Expertinnen sprechen von rund dreißigtausend Scherben, die in dem seit der Bronzezeit besiedelten Latium im Dunstkreis des inzwischen trockenliegenden Vulkankratersees Lago di Castiglione und in nächster Umgebung der italischen Stadt Gabii aufgelesen wurden. Sie stammen von Gefäßen, die bei Ritualen im lokalen Sanktuarium Verwendung fanden. Der sakrale Schrottplatz ergab sich aus der Regel, dass heilige Gegenstände im geweihten Bezirk bleiben mussten.
Da wir den Ritus-Kode der Prä-Pompejischen Bevölkerung nicht kennen, bleibt uns der einfachste Aufschluss verwehrt. Veronika hat das ihrer Tochter schon einmal vor Ort und am Beispiel der Entdeckungs- und Ausgrabungsgeschichte der Villa dei Misteri - Mysterienvilla erklärt. Die unweit der Porta di Ercolano, sprich Herculaneum-Tor, gelegene Anlage verdient sich ihre besondere Prominenz mit Fresken, die eine dionysische Mysterien-Erzählung überliefern. Auch darum ging es bei dem Pariser Streit. Gabriella Pironti, Professorin für antike griechische Religionsgeschichte, findet es problematisch, „dass die meisten Archäologen … den antiken Polytheismus unbewusst als ein (monotheistisches) Nebeneinander konzipieren“.
Star des Fries-Ensembles ist Dionysus. Die römischen Adaptionen des griechischen Ackergottkultes erzeugten gesellschaftliche Spannungen. Eine unter dem Bacchus-Siegel vereinte, einigermaßen klassenlose Exzess-Gemeinschaft sorgte 186 vor unserer Zeitrechnung für einen Skandal im Themenkreis der religio prava - verkehrten Religion. Die Obrigkeit sanktionierte drakonisch. Das Verbot des Bacchanal-Kultes begleitete ein stände- und geschlechterübergreifendes Strafgericht.
War die Mysterienvilla der klandestine Schauplatz einer illegalen Praxis? Zeigte das Bandgemälde eine Initiationsstätte an? Eine kultische Flüsterkneipe? Ein antikes Blind Pig?
Die Forschung dementiert das Phantasma der okkult-sakralen Nutzung. Die Anordnung der Räume widerspricht jeder Vorstellung von Heimlichkeit, Separation und Exklusivität über das herrschaftlich-repräsentative Wohnen in einer Villa mit Meerblick hinaus. Amedeo Maiuri liefert eine plausible Erklärung. Bei der Szenenfolge handelt es sich um eine gesellschaftlich vermittelnde Interpretation, der mit Dionysus identifizierten Mysterien. Entschärfte Bacchus-Ritualvereine unterliefen das im Weiteren lax gehandhabte Verbot. Der Kult wurde immer wieder neu belebt. Frauen aus angesehenen Familien gaben den Ton an. Die Hausherrin könnte die Priesterin einer anerkannten Gemeinschaft gewesen sein.
(Zitate und Erkenntnisse aus Gabriel Zuchtriegels erhellendem Werk „Vom Zauber des Untergangs. Was Pompeji über uns erzählt“)
Veronika wähnt sich auf der Höhe solcher Lebensstilvorgaben. Ist sie nicht auch eine Hohepriesterin halb im Verborgenen? Dazu bald mehr.