„Ich schreibe auch Dinge, die ich nicht verstehe. Ich lasse sie in meinen Büchern stehen und lese sie wieder, und dann bekommen sie einen Sinn.“ Marguerite Duras, „Yann Andréa Steiner”
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Sehen Sie auch hier. Und hier. Und hier.
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„Die Kriegsgefangenen hießen unsere Franzosen und nicht selten wurde, als der sogenannte Spuk 1945 endlich vorbei war, von Weißwein nach vin rouge geheiratet.“ Eva Demski, „Rheingau“
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„Die Leblosigkeit der Straßen fiel mir erst auf, als ich nur die Seiteneingänge des Palais royal offen, Kaffeehäuser und Läden aber verschlossen fand.“ Konrad Engelbert Oelsner 1792 in Paris
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„Deinen Freunden werde ich das Haus verbieten. Das sind undisziplinierte Menschen, die sich unausgesetzt mit ihrem Gewissen beschäftigen, statt zu arbeiten.“ Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“
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„Ahaṅkāra ist der Teil des Geistes, der identifiziert … (er) ist das, was man denkt, dass man sei.“ Christopher Wallis, „Licht auf Tantra“
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Susie Yang erzählt eine paradoxe Geschichte. Während in der Volksrepublik China der Wohlstand ausbricht, und Leute, die sich eben noch über ein Fahrrad zu freuen in der Lage waren, Kataloge nach Luxusartikel durchforsten, die sie für einen Augenblick nur an die Spitze des Konsumwettbewerbs setzen, konkurrieren chinesische US-Migrant:innen mit anderen Minderheiten um Nebenstellen und Randpositionen des Mainstream-Flows. Sie isolieren sich in ethnisch definierten Gemeinschaften. Für Susie Yangs Heldin Ivy geht es stets darum, dem Community-Knast und seinen Ideologien zu entkommen. Ivy fühlt sich von Kindesbeinen an ganz und gar als Amerikanerin.
Soziale Mutation
Wo gibt es denn so etwas? Großmutter Meifing führt ihre Enkelin Ivy in Feinheiten des Ladendiebstahls ein. Den Klau von zwei Schals tarnt die Versierte mit einem Etikettenschwindel. Ein von ihr selbst im Preis herabgesetzter Pullover lässt sie an der Kasse als reguläre Kundin erscheinen.
Die Lektion lautet:
„Du musst mit einer Hand geben und mit der anderen nehmen. Niemand wird auf beides gleichzeitig achten.“
Weitere Weisheiten:
„Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen manche Mauern. Andere bauen Windmühlen.“
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„Der geradeste Baum wird als Erster gefällt.“
Susie Yang, „Die kleinen Lügen der Ivy Lin“, Roman, aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp, Penguin Verlag, 18,-
Bald ist Ivy eine effektive Diebin. Meifing hält ihr das vor, obwohl sie die Enkelin einst anstiftete. Eines Tages wartet sie mit einem Großtableau der Familiengeschichte auf. Sein Schauplatz ist das Dorf Xing Chang an der Mündung des Jangtse in der Provinz Sichuan. Die Kulturrevolution spielt eine Rolle. Dazu gleich mehr.
Die Familie schickt Ivy zu Verwandten nach Chongqing. Da gerät die Expatriierte in jenen Konsumrausch, den man mit Amerika assoziiert. Ivys Tante Sunrin übernimmt die kosmetische Initiation. Sie kleidet die Nichte neu ein. Wo sie steht und geht, zückt Sunrin ihre goldene American Express-Karte. Nach zwei Wochen endet die Party in dem Armutsquartier einer anderen Tante. Ivy findet sich schnell zurecht.
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Wohlstand statt Freiheit. Mit dieser Formel wurde die Dschunke des chinesischen Wirtschaftswunders zu Wasser gelassen. Kaum floss das Geld zur Mitte, tauchten liberalen Ideen auf. Die demokratisch konnotierten Teilhabeerwartungen einer neuen Mittelklasse schufen sich ihre eigenen Instrumente.
Das passte Xi Jinping nicht.
Die in der zweiten Morgenröte der chinesischen Revolution Person gewordene Partei erfüllt die Idee einer historischen Kontinuität. Nicht zuletzt Desmond Shum beschreibt, wie die „Saat der Zivilgesellschaft ausgemerzt“ wurde und die Partei die absolute Kontrolle über absolut Alles rigoros wiederherstellte. Die Idee der historischen Kontinuität; in der chinesischen Lesart summieren sich die Staats- und Gesellschaftsdebakel der letzten dreihundert Jahre zu einer verrutschen Plansollerfüllung im Spektrum der Belanglosigkeit. Man spricht von einem Betriebsunfall.
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Susie Yang beschreibt die Verwerfungen der Kulturrevolution am Beispiel einer Familiengeschichte. Mao erpresste die Landwirt:innen. Er entzog den Produzent:innen die Arbeitsleistung über das Existenzminimum hinaus, um in den sozialistischen Schwester- und Bruderländern Getreide und Fleisch gegen militärisches Know-how einzutauschen.
Meifings lebenslange Armut und Dependenz sind dieser Politik geschuldet. Doch gingen die Elendsursachen in jenem wie ein Aufstand wirkenden Aufschwung unter, der inzwischen von Xi Jinping kanalisiert wurde. Dazu bald mehr.
Aus der Ankündigung
Ivy Lin ist eine ausgesprochen talentierte Lügnerin. Doch das würde niemals jemand erahnen. Ihre Lügen erlauben es Ivy, ihre ungeliebte Vergangenheit für immer hinter sich zu lassen und in ein Leben zu schlüpfen, das reicher und auch viel schöner als ihr eigenes ist. Niemand verkörpert diese Zukunft, nach der sie sich so sehr verzehrt, besser als Gideon Speyer. Und so arbeitet Ivy mit jeder Lüge darauf hin, endlich Gideons Ehefrau zu werden. Bis plötzlich ein Mann aus ihrer Vergangenheit auftaucht und ihr gesamtes Leben infrage stellt. Im Alleingang könnte er Ivys Lügengerüst ins Schwanken bringen. Dennoch kann sich Ivy ihm nicht entziehen.
Zur Autorin
Susie Yang wurde in China geboren und kam als Kind in die Vereinigten Staaten. Nach ihrer Promotion im Bereich Pharmazie gründete sie in San Francisco ein erfolgreiches Tech-Startup. Sie hat kreatives Schreiben in Tin House und Sackett Street studiert. Ihr Debüt Die kleinen Lügen der Ivy Lin schaffte es auf Anhieb auf die New York Times-Bestsellerliste.