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2023-10-10 10:44:18, Jamal

In ihrem Roman „Der letzte Liebende“ verknüpft Annette Mingels deutsche Geschichte mit zumindest halbwegs amerikanischen Lebensläufen. Ihre Zentralfigur absolviert den Parcours der Kindheit und Jugend in der DDR. Karl/Carl startet als Spross einer ‘Umsiedler‘-Familie. Er wird von der Konfirmation abgehalten und zur Jugendweihe gedrängt. Er trägt nicht schwer an der Schuld, die Positionen seiner Angehörigen mit dem Wechsel in den Westen zu belasten. Achselzuckend rauscht er von Westberlin durch bis zur US-Ostküste. Zu Beginn seiner akademischen Strecke kreuzt er den Weg eines Nachkommen von Holocaust-Überlebenden, den der Easy-Peasy-Style und die erotische Lässigkeit eines Sohnes potentieller Täter:innen aufwühlt.    

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In ihrem Roman „Der letzte Liebende“ verknüpft Annette Mingels deutsche Geschichte mit zumindest halbwegs amerikanischen Lebensläufen. Ihre Zentralfigur absolviert den Parcours der Kindheit und Jugend in der DDR. Karl/Carl startet als Spross einer ‘Umsiedler‘-Familie. Er wird von der Konfirmation abgehalten und zur Jugendweihe gedrängt. Er trägt nicht schwer an der Schuld, die Positionen seiner Angehörigen mit dem Wechsel in den Westen zu belasten. Achselzuckend rauscht er von Westberlin durch bis zur US-Ostküste. Zu Beginn seiner akademischen Strecke kreuzt er den Weg eines Nachkommen von Holocaust-Überlebenden, den der Easy-Peasy-Style und die erotische Lässigkeit eines Sohnes potentieller Täter:innen aufwühlt.    

Erotische Lässigkeit

Carl Kruger, ursprünglich Karl Krüger - der Umlaut fiel einer phonetischen Anpassung zum Opfer - betrachtet Verwerfungslinien eines langen Lebens. Zur Welt kam er im Ostseebad Sopot (deutsch Zoppot). Nach dem Zweiten Weltkrieg musste die Familie ‚umsiedeln‘ (DDR-Jargon). Der erzwungene Umzug endete in einem Mecklenburger Kaff zwischen Waren an der Müritz und Krakow am See.

In Waren erlitt Heiner Müller eine Jugend als sächsischer „Ausländer“. Carl verbrachte eine verrußte Kindheit - gemeinsam mit seinen älteren Brüdern Hermann und Konrad - in dem fiktiven(?) Windisch. Bei der ersten Gelegenheit setzte er sich in den Westen ab. In Westberlin lernte er seine künftige - in der Folge eines Eingriffs unfruchtbare - Frau kennen. Beschwingt wanderte das Paar nach Amerika aus. Kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag konstatiert der emeritierte Chemieprofessor eher klinisch noch als stoisch unerwartete Emanationen der Selbstentfremdung.

Der Mix aus distanziertem Duktus und hedonistischen Prisen erinnert erkennungsmelodisch an jüngere Ausgaben des Helden; und so auch an den akademischen Zampano, dessen Vorlesungen Kult waren. Ihm zu eigen war die Leichtigkeit des Seins in einem Affären-Marathon unter den Vorzeichen einer durchgehaltenen Ehe, die mit dem Krebstod der Gattin beinah sechzig Jahre nach Vertragsschluss endet.

Annette Mingels, „Der letzte Liebende“, Roman, Penguin Verlag, 300 Seiten, 24,-

Das Schicksal seiner Verwitwung erleidet Carl in der post-pandemischen Handlungsgegenwart. Vertraute Milieus mutieren. Ein Dschungel des Befremdlichen wächst sich aus.

Das Abenteuer des Altwerdens lässt keinen kalt. Verluste und Krisen bilden verblüffende Alltagsmuster. Adoptivtochter Lisa kümmert sich um den Greis. Lisas Sohn zeigt ein ermutigendes Interesse am Großvater. Im Dunstkreis von Carls kleinstädtisch-gediegenem Lebensmittelpunkt Montclair im US-Bundesstaat New Jersey liegen so illustre Ziele wie West Orange und Morristown.

Carl studiert die Todesanzeigen in der Montclair Gazette. Die Autorin kombiniert fiktive und reale topografische Marken. Lange lebten die Krugers in der Myrtle Lane. Vor vierzig Jahren hatten sie da eine viktorianische Villa bezogen, die sie im Vorraum der Romanereignisse gegen eine zentral gelegene Maisonettewohnung mit Aufzug in einem Komplex namens Riverton Grant eintauschten. Aus dem Fenster sieht Carl bis zur Watchung Avenue.

Lisa war auf der Glenfield Middle School, bevor sie auf ein College in Edison wechselte. An Carls achtzigsten Geburtstag schlägt sie ihm eine gemeinsame recherche du temps perdu vor. Ihr Interesse an der Verwandtschaft und den biografischen Ausgangspunkten ihres Adoptivvaters bleibt unbeleuchtet.  

Lisa und ihr Sohn reisen mit Carl via Windisch nach Polen. Unterwegs picken sie den Einzelgänger Hermann auf. Die so seltsam Verbundenen erreichen den pommerschen Geburtsort der Brüder. Das mitteleuropäisch-solvente Kurbetriebsklima in Sopot versetzt nicht nur Lisa in Erstaunen.   

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Ein Kollege aus Carls universitärer Keimzeit vertraut ihm Aufzeichnungen im Stil der literarisierten Autobiografie an. Trevor macht kein Hehl daraus, dass er bei der Hauptfigur an Carl Maß nahm. Sein Held heißt John Clover. Der Dekan eines naturwissenschaftlichen Fachbereichs wird von Studierenden als „Don John“ apostrophiert. Erst im Gegenlicht kritischer Betrachtungen der klassischen Academia-Konstellation - die in ihren Professor verliebte Studierende/der von einer Studierenden affizierte, den pädagogischen Eros überstrapazierende Professor - fällt mir auf, dass die Variante nicht nur einem literarischen Genre entsprach.

Aus der Ankündigung

Carl Kruger ist einsam. Fast sechzig Jahre war der emeritierte Chemieprofessor mit Helen verheiratet. Obwohl die Ehe schon lange zerrüttet war, trifft Helens Tod ihn bis ins Mark. Darum willigt er ein, als seine Tochter Lisa ihn zu einer Reise in die alte Heimat überredet. Doch der Besuch in Ostdeutschland und Polen verläuft anders, als der Wahlamerikaner erwartet. Konfrontiert mit einer Welt im Umbruch, stellt sich Carl die Frage: ist er, der »alte weiße Mann«, überhaupt angekommen in diesem Jahrhundert?  Annette Mingels' so kluger wie berührender Roman erzählt vom Schwinden aller Sicherheiten am Ende eines langen Lebens und von sehr heutigen Konflikten zwischen den Generationen. Psychologisch genau, mit virtuoser Leichtigkeit und meisterhaft im Ton.

Zur Autorin

Annette Mingels, geboren 1971, studierte Germanistik und schloss mit einer Promotion ab. 2003 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem fünf weitere und ein Erzählband folgten. Für »Was alles war« erhielt sie 2017 den Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag. Zuletzt erschien 2020 der Roman »Dieses entsetzliche Glück«. Nach Jahren in der Schweiz, in Montclair (USA), Hamburg und San Francisco lebt Annette Mingels seit 2021 mit ihrer Familie bei Berlin.