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2023-10-13 08:46:55, Jamal

Mondnächte der Seele

„Die Theoretiker der Abschreckungs- und Eskalationsstrategie müssen davon ausgehen, dass sich beide Seiten hinreichend rational verhalten … In extremen Situationen treten aber seelische Kräfte auf den Plan, die die Ordnung der Güter verändern … (Krieg) wäre unmöglich ohne die in jedem Menschen angelegte Umschaltung von der Selbsterhaltung zu der Einstellung das Leben ist der Güter Höchstes nicht.“ C.F. Weizäcker, zitiert nach Alexander Kluge

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„Wie überall, ist der Pöbel barbarisch und kennt kein Mitleid.“ Gustave Aimard

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„Es war die Angst vor den Mondnächten der Seele, die (Ulrich) zu dem vernünftigen Gefühl dieses Mannes hinzog, der so männlich trocken wie eine leere Zigarrenschachtel war.“ Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

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„Im Übrigen ist (Hermosillo), wie die anderen Städte des spanischen Amerikas, schmutzig, aus gestampfter Erde gebaut und rollt vor den erstaunten Augen des Reisenden ein Bild von Trümmern, Sorglosigkeit und Verödung auf, das die Seele mit Trauer erfüllt.“ Gustave Aimard

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„Das Gedränge war unausstehlich. Aus der Mitte der Eindringlinge begrüßten den König … die gröbsten Injurien. Er wurde Hahnrei … Schwein … genannt. Unterdessen machte Seine Majestät eitle Versuche zu reden.“ Konrad Engelbert Oelsner über die Ereignisse rund um den 20. Juni 1792, als bewaffnete Sansculotten in die Tuilerien eindrangen, wo Ludwig XVI. und Königin Marie Antoinette in ihrem Palast das Dasein von Festgesetzten fristeten, die den revolutionären Furor artig begrüßen mussten. Der degradierte König sagte zu allem Ja und Amen, was ihm am Leben zu bleiben versprach. Der vormals absolutistische Herrscher figurierte als Hampelmann mit Krone. Oelsner sah ihn gute Miene machen zum bösen Spiel der Stürmer:innen und Dränger:innen.

„Der ehemalige Gebieter vieler Millionen Menschen, die mehr taugten als er … saß da - Sie kennen die bourbonische Ungestalt - mit einer erzwungenen heiteren Miene, wie Pulcinello, wenn er trotz einer heftigen Kolik im Fastnachtspiele lustig sein muss.“

© Jamal Tuschick

Mumifizierte Fliege/Magische Diagnostik

Als ich William Sung zum ersten Mal traf, war er bereits über neunzig. Er amtierte als Doyen einer Kampfkunstlinie, zu der ich mich jetzt nicht äußern will. Obwohl er so lebhaft wirkte wie eine mumifizierte Fliege und auch nicht mehr aus dem Bett kam, verblüffte er mich mit Skizzen von überraschenden Bewegungsabläufen, die er zittrig in die Luft zeichnete.

Mit jugendlichem Hochmut registrierte ich die Dürftigkeit der Verhältnisse. Mir missfielen die Rahmenbedingungen von Sungs Siechtums bis zu einer Ekelschwelle. Unschön und lieblos fand ich die Einrichtung seiner Kammer, die auch als Lager für ein in Heimarbeit produziertes und kartoniertes Versandprodukt diente. Heute, da ich selbst dem Alter ins Auge sehe, erinnere ich die Szenen als Elemente einer brutalistischen Plastik- und Betonidylle. Eine rohe Bauweise entsprach den Gepflogenheiten.

Sung erwartete sein Ende in einem Krankenhausbett mit rostigem Gitter. Offensichtlich war er guter Dinge. Ihm war es beschieden im Dorf seiner Herkunft zu sterben.

Die Leute im Haus waren aber keine Angehörigen. Sie behandelten Sung respektvoll. Langlebigkeit stellt in China einen besonderen Wert dar.

Longevity ist das Maß aller Dinge. Man dehnt die persönliche Spanne. Darüber hinaus überlebt man in seinen Nachkommen. Deshalb zählt für die greise Avantgarde „Blutsverwandtschaft mehr als Ideologie“ Quelle

„Ihr Vermächtnis (erfüllt) sich nur dann, wenn die nächste Führungsgeneration aus ihren eigenen Kindern besteht“. Quelle

Allerdings war niemand in Sungs alltäglicher Reichweite an dem Schatz interessiert, der mit ihm begraben werden würde.  

Greise Koryphäe

Ich besuchte Sung gemeinsam mit dem australischen Gelehrten Nicolas Mountbatten. Nicolas dolmetschte das Gespräch mit der greisen Koryphäe. Auf der ganzen Linie profitierte ich von Nicolas' somnambulen Uneigennützigkeit. Er teilte mit mir mehr als eine Leidenschaft. 

Wo ich bloß passioniert blieb, riss er professionell den Horizont auf. Hinter ihm lag ein Ausbildungsmarathon, den er neben seiner akademischen Karriere absolviert hatte. Um biomechanische Feinheiten besser zu verstehen als jeder noch so ambitionierte Laie, war er bei einer Physiotherapeutin in die Lehre gegangen, die für ihre magische Diagnostik berühmt war. Liane Cooper initiierte den Adepten und führte ihn ein in einen Kolleginnenkreis (auch von Osteopathinnen und Chiropraktikerinnen), die sich regelmäßig zum Keulenyoga trafen. Wir haben das Thema bereits an anderer Stelle gestreift. Keyword: Extension to the body - Edged weapon concept. The human body’s ability to powerfully rotate is what we have been biomechanically evolved to do.

In einem rituell herbeigeführten Bewusstseinswandel erlebte Nicolas, wie sein Brustkorb zur genuinen Kraftquelle wurde. Schließlich gelang es ihm mühelos, diese Kraft (thoracic cavity force) auf seine Hände zu übertragen.

Im Bermudaviereck zwischen Yoga, Buddhismus, Kampfkunst und asiatischen Sprachen galt Nicolas als Allrounder, während überall Spezialistinnen ihre Netze der Exklusivität und gewiss auch einer - mir instinktiv notwendig erscheinenden - Beschränktheit woben. Meister vom Sung-Schlage bewegten sich über bestimmte Grenzen nicht hinaus. Sie blieben in ihrem Muster und entwickelten da Fähigkeiten, die sie kaum richtig erklären konnten. Mir gefiel das. Ich neigte dem Beschränkten zu. Den Enzyklopädistinnen (unter den Kampfkunstmonomanen) begegnete ich mit unergründetem Misstrauen.

Auf der Rückreise redeten wir über die Voraussetzungen der Langlebigkeit. Bewegung, Hunger, Kälte und deutliche Aufenthalte außerhalb der thermoneutralen Komfortzone führen zum Ziel. Der beschleunigte oder verlangsamte Puls hat „genetische Wurzeln, die in die Zeit des Überlebenskampfes von M.superstes zurückreichen“ (David A. Sinclair).

Zum ersten Mal meldete sich bei mir ein Widerstand gegen duale und kontrahierende Deutungen (im Gegensatz zu non-dualen und expandierenden Auffassungen der Wirklichkeit). Als hätte es mir jemand eingeredet, dachte ich: In the non-dual perspective, the opposition between old and unlimited does not exist. Dazu bald mehr.